Herrin der Falken
ich hergekommen? Was ist geschehen?« flüsterte er. Dann erinnerte er sich. »Jemand hat mich geschlagen!« Es klang eher überrascht als zornig. Vermutlich war er, ein verwöhntes Tieflandkind, noch nie geschlagen worden, niemand hatte bisher anders als freundlich mit ihm gesprochen. Sie drückte ihn fest an sich.
»Hab keine Angst«, raunte sie ihm zu. »Ich passe auf, daß er dir nichts mehr tut.« Ja, sollte Alaric das Kind noch einmal bedrohen, würde sie sich dazwischenwerfen. Caryl zappelte, bis er bequemer im Sattel saß. Jetzt, wo er sich aufrechthalten konnte und nicht länger ein totes Gewicht in ihren Armen war, fiel es Romilly leichter, die Herrschaft über das Pferd zu behalten. »Wo sind wir?« fragte er leise.
»Auf dem Weg, zu dem du uns geführt hast. Dom Carlo hat dich mitgenommen, weil er dich nicht bewußtlos in der Kälte liegenlassen wollte. Er meinte es nur gut mit dir. Alaric sieht in dir eine Geisel, aber Orain wird verhindern, daß er dir noch einmal etwas tut.«
»Lord Orain ist immer freundlich zu mir gewesen«, meinte Caryl nach kurzem Nachdenken, »schon als ich noch ganz klein
war. Ich wünschte, mein Vater hätte nicht mit ihm gestritten.
Und Vater Meister wird sehr böse auf mich sein.«
»Es war nicht deine Schuld.«
»Vater Meister sagt, alles, was uns zustößt, ist unsere eigene
Schuld, auf diese oder jene Weise«, antwortete das Kind mit gedämpfter Stimme. »Wenn wir es nicht in diesem Leben verdient haben, dann in einem anderen. Widerfährt uns etwas Gutes, und wir haben es verdient, sollen wir uns dessen erfreuen. Und wenn es etwas Schlimmes ist, müssen wir uns sagen, daß wir auch das irgendwie verdient haben, und es sei nicht leicht, das eine vom anderen zu unterscheiden. Ich bin mir nicht sicher, was das heißen soll«, setzte er naiv hinzu. »Aber ersagte, ich würde es verstehen, wenn ich älter geworden bin.«
»Dann muß ich auch noch sehr jung sein.« Romilly konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Da sprach sie auf diesem gefährlichen Weg über höhere Cristofero-Philosophie, und die Männer des Königs konnten ihnen schon auf den Fersen sein! »Denn ich gestehe, daß ich nichts davon begreife.«
Orain hörte das Lachen. Er lenkte an einer Stelle, wo der Pfad sich ein bißchen verbreiterte, sein Pferd zur Seite und wartete, bis sie ihn eingeholt hatten. »Bist du wach, junger Caryl?“
»Ich habe nicht geschlafen!« protestierte er empört. »Jemand hat mich niedergeschlagen!«
»Das stimmt«, erwiderte Orain ernsthaft. »Glaub mir, er hat darüber etwas von Dom Carlo zu hören bekommen. Und jetzt, fürchte ich, mußt du mit uns nach Caer Donn reiten, denn auf dieser Strecke kannst du unmöglich allein umkehren. Ich weiß, daß du uns willentlich nicht verraten würdest. Doch ist mir von früher her bekannt, daß Lyondri Laran hat und in deinen Gedanken lesen könnte, welchen Weg wir genommen haben. Ich gebe dir mein Wort, das ich, im Gegensatz zu deinem Vater, nie gebrochen habe: Sobald wir Caer Donn erreichen, schicken wir dich ihm unter Waffenstillstandsflagge zurück. Er«, mit vielsagendem Schulterzucken wies er auf Dom Carlo, der an der Spitze ritt, »wünscht dir nichts Böses. Aber ich muß dich warnen, in dieser Gesellschaft deine Zunge zu hüten.«
»Mein Lord«, begann Caryl. Orain schüttelte abwehrend den Kopf und fiel schnell ein: »Wenn es für dich bequemer ist, hinter mir zu reiten, kannst du aufsteigen, sobald der Weg breiter wird. Hier haben wir keinen Platz, anzuhalten und die Pferde zu wechseln. Oder, wenn du mir das Wort eines Hastur gibst, daß du keinen Fluchtversuch machen wirst, sorge ich dafür, daß du allein auf einem der Packtiere reiten kannst.«
»Danke«, erwiderte der Junge. »Ich möchte lieber bei –«, er unterbrach sich, schluckte und fuhr fort, »— bei Rumal bleiben.“ Romilly staunte über seine Geistesgegenwart. Jedes andere Kind wäre in dieser Situation mit ihrem Geheimnis herausgeplatzt.
»Dann reite vorsichtig, Rumal«, sagte Orain, »und gib gut auf ihn acht.« Er ritt weiter. Romilly setzte Caryl vor sich so bequem wie möglich zurecht. Leichter wäre es gegangen, wenn er hätte hinter ihr sitzen und sich an ihr festhalten können, aber das ließ sich jetzt nicht bewerkstelligen. Sie dachte darüber nach, daß der Junge sie beschützt hatte, obwohl ihm die Bewahrung ihres Geheimnisses keinen Vorteil eintrug und ganz im Gegenteil Unruhe unter den Leuten gestiftet hätte, die ihn als Gefangenen mit
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