Herrin der Lüge
gestohlen. Aber Saga ist unschuldig. Das müsst Ihr mir glauben!«
An ihrem Tonfall hörte er, dass sie lächelte. »Da haben wir es wohl mit einem besonderen Fall von Geschwisterliebe zu tun. Ist das nicht so, Faun? Wie sehr liebst du deine Schwester? Und, viel wichtiger: Wie sehr liebt sie dich!«
Faun war sprachlos. Was hätte er darauf erwidern können? Wir sind Zwillinge, du Miststück. Wir sind eins. Das waren wir immer.
»Deine Antwort.« Die Stimme wurde eine Spur ungeduldiger.
»Natürlich lieben wir uns.« Es klang seltsam brüchig, wie er das sagte, sogar in seinen eigenen Ohren. Er ballte die Fäuste, bis seine Hände schmerzten.
»Würde sie versuchen, dich aus einem Kerker zu befreien? Würde sie ihr Leben für dich aufs Spiel setzen?«
Das Blut sackte ihm aus den Zügen, seine Hände fühlten sich lahm und schlaff an. Er taumelte einen Schritt zurück und wäre auf dem klammen Stroh beinahe ausgerutscht.
»Was wollt Ihr von meiner Schwester?«
Sie lachte leise. »Du hast Verstand, Faun Hühnerdieb. Das stimmt mich hoffnungsvoll, was deine Schwester angeht. Verstand ist eine gute Voraussetzung.«
»Für was?« Er begriff nicht, was sie da redete. Welches Interesse hatte die Gräfin an Saga, wenn sie sie nicht ebenfalls für eine Diebin hielt?
»Dies«, sagte sie leichthin, »und jenes.«
Unvermittelt zog sie sich von der Luke zurück. Durch die Öffnung sah er nur noch die Fackel an der Mauer gegenüber. Einen Herzschlag lang schien es, als sei die Silhouette selbst entflammt, so als hätte er mit purem Feuer gesprochen, nicht mit einem Menschen.
»Was meint Ihr damit?« Wieder schlug er gegen die Tür.
»Schlaf gut, kleiner Dieb.«
Die Luke schlug zu. Keine Geräusche mehr.
Nur das Schweigen der Mauern klang lauter als zuvor.
Die lange Nacht
Saga wartete, bis alle schliefen.
Ihre vier Schwestern lagen in Decken gewickelt zwischen ihr und dem Ausstieg des Planwagens; ihre Eltern nutzten wie üblich den zweiten Wagen als Nachtlager. Lisa, die jüngste der vier, hatte sich beim Einschlafen an ihre älteste Schwester gekuschelt. Saga küsste flüchtig das weizenblonde Haar der Vierjährigen und schob sie behutsam beiseite. Lautlos glitt sie ins Freie.
Die Nacht war kühl. Das Hügelland rund um den Lerchberg lag in sternenklarem Schlummer. Die nahen Wälder flüsterten sanft. Ganz in der Nähe glühte noch die Asche einer Feuerstelle, daneben schnarchte ein Betrunkener.
Die Zelte und Wagen der Händler standen auf einer Wiese unweit des Burgtors. Alle hatten den Hof verlassen müssen, als die Nacht anbrach und das Marktfest seinen Abschluss fand. Die Soldaten hatten hinter ihnen das Tor verriegelt, als gelte es, eine feindliche Armee fern zu halten. Niemandem, der nicht dorthin gehörte, war es gestattet, innerhalb der Burgmauern zu übernachten. Schon bei ihrer Ankunft vor drei Tagen war den Gauklern aufgefallen, wie streng die Kontrollen gehandhabt wurden. Die Karren waren weit gründlicher als üblich durchsucht worden. Jeder Neuankömmling hatte angeben müssen, woher er kam und was er dort über die Lage im Land gehört hatte. Einige Händler waren abgewiesen worden, ohne dass man ihnen die Gründe genannt hatte.
Trotz des ausgelassenen Treibens im Burghof lag Furcht über Burg Lerch. Sagas Vater hatte seinen Kindern hinter vorgehaltener Hand die möglichen Ursachen erklärt. Als Anhängerin des unterlegenen Philipp von Schwaben drohte der Gräfin wie Dutzenden anderer Edelleute im ganzen Reich die Rache des Kaisers; nicht, weil Otto IV. ein übermäßig grausamer Mann war, sondern weil er sich nach dem Bürgerkrieg gezwungen sah, jeden Unruheherd im Keim zu ersticken. Adelige, die auf der Seite seines Feindes gekämpft hatten, blieben eine Gefahr. Aufruhr lag in der Luft. Violante und ihr Ehemann Graf Gahmuret von Lerch hatten als enge Freunde Philipps gegolten.
Dass nicht längst kaisertreue Edle die Burg bewohnten, hatte einen Grund: Gahmuret war seit mehr als sechs Jahren verschollen. Damals, im Jahr 1204, war er mit Tausenden anderen ins Heilige Land aufgebrochen, um die Sarazenenpest aus Jerusalem zu vertreiben. Der Kreuzzug war nach der Schlacht um Konstantinopel zerfallen, viele Ritter nie heimgekehrt. Gahmuret war einer von ihnen.
Saga blieb im Schatten des Planwagens stehen und blickte zur Burg. Es war ein stattliches Anwesen, wenn auch nicht übermäßig groß. Eine feste Mauer schützte die Gebäude rund um den Palas. Mehrere Wachtürme erhoben sich über den
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