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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hatte er erklärt. Deswegen musste er Menschen töten.
    Er glaubte wirklich daran: dass die Herzen seiner Opfer ihn unsterblich machten. Weil er schon einmal gestorben war. Genau wie Maria. Behauptete er.
    Maria war erst neun, aber sie wusste, dass sie nicht ge storben war. Krank war sie gewesen, schwer krank; ihre Eltern hatten ihr davon erzählt. Aber tot war sie nicht gewesen. Und der Bethanier? Er war verrückt, genauso wie der Mönch, der einmal aus dem Kloster in den Sümpfen zu Marias Hof herübergekommen, hinauf aufs Dach gestiegen war und einen halben Tag lang wie ein Hahn gekräht hatte. Damals hatte Marias Vater ihr erklärt, dass manche Menschen nicht ganz richtig im Kopf wären.
    Einige krähten wie ein Hahn.
    Andere aßen Herzen.
    Das Schlachtross erhob sich neben ihr als Berg aus schwarzer Muskelmasse. Sie fürchtete, dass das Tier sie bewachen sollte. Wenn sie einen Schritt machte, würde es womöglich wiehern oder nach ihr treten.
    Aber im Augenblick kümmerte sich das Ross nicht um sie, stand einfach nur da und blickte hinüber zu den Weiden, zwischen denen sein Herr verschwunden war. In entgegengesetzter Richtung, hinter einer Graskuppe, lag die alte Steinstraße, der sie gefolgt waren. Nach Osten, hatte der Bethanier gesagt, aber Maria wusste nicht, was das bedeutete. Fest stand, sie waren jetzt mehrere Tagesritte von ihrem Zuhause entfernt. Er hatte sie mitgenommen wie einen Gegenstand, und sie wusste bis heute nicht, was er von ihr wollte. Er war freundlich zu ihr, selbst wenn er davon sprach, noch vielen Menschen die Herzen aus der Brust zu reißen. Niemals brüllte er sie an oder schlug sie gar. Es war, als wäre ihre Anwesenheit genug, um ihn zufrieden zu stellen. Irgendetwas erkannte er in ihr. Eine Verwandtschaft, hatte er gesagt. Du bist wie ich.
    Aber sie war nicht wie er. Trotz ihrer Angst war sie nicht verrückt. Der Schmerz beim Gedanken an ihre Eltern – und sie dachte an kaum etwas anderes – ließ sie oft weinen, aber selbst dann wurde er nicht ungehalten. Er schwieg nur und wartete, bis sie sich irgendwann an ihrem eigenen Schluchzen verschluckte und wieder ruhiger wurde.
    Auch jetzt traten ihr Tränen in die Augen, doch sie beherrschte sich. Das Pferd stampfte einmal mit dem Vorderhuf auf, gab ein leises Schnauben von sich und erstarrte wieder. Maria nahm all ihren Mut zusammen und bewegte sich zaghaft von der Stelle.
    Sie entfernte sich seitwärts von der glänzenden Flanke des Rosses und dem Sattel, an dem mehr Waffen befestigt waren, als sie zählen konnte. Der Bethanier hatte nur seine Sichelaxt mitgenommen, als er dem Mann zwischen die Weiden gefolgt war. Mit ihr hatte er auch die übrigen Männer des kleinen Pilgerzuges getötet. Vier Leichen lagen weiter oben auf dem Hügel, inmitten einer Narbe aus niedergetrampeltem Gras. Die umliegenden Halme waren so hoch, dass Maria die Toten von hier aus nicht erkennen konnte. Aber sie hatte aus der Ferne mit ansehen müssen, wie sie fielen, niedergemacht in Sekundenschnelle.
    Die Schreie zwischen den Weiden verstummten. Der Bethanier musste sein Opfer eingeholt haben. Maria blieb stehen und lauschte auf weitere Laute, aber da war nichts. Normalerweise wäre sie darüber froh gewesen, doch jetzt wünschte sie fast, das Wüten der Sichelaxt hätte ihr verraten, wo genau sich der Ritter befand. So aber konnte sie den Blick nicht vom Rand des Weidendickichts nehmen, während sie steif Schritt um Schritt machte.
    Ihr Fuß stieß gegen etwas am Boden, unsichtbar im hohen Gras. Nur ein Stein. Sie war viel zu angespannt, um aufzuatmen.
    Das Schlachtross fegte mit dem Schweif ein paar Fliegen beiseite. Eine surrte zu Maria herüber und setzte sich auf ihre verschwitzte Stirn. Das Mädchen wagte nicht, sie wegzuscheuchen. Vielleicht stand er schon dort unten hinter den Peitschenvorhängen und lauerte.
    Nicht daran denken. Weitergehen.
    Sie wurde schneller. Die Fliege krabbelte auf ihrer Haut. Es juckte, und je mehr Maria darauf achtete, desto unerträglicher wurde das Gefühl. Sie machte ein paar kurze, ruckartige Kopfbewegungen, aber das Kribbeln auf ihrer Stirn blieb.
    Die Weiden erstreckten sich als braune Masse bis zu den Ausläufern der Hügel, die den Horizont verdeckten. Weiter als ein Bogenschuss, dachte Maria. Zweimal, dreimal so weit. Eine wogende Masse, die vom Wind in Bewegung gehalten wurde. Die Peitschenäste baumelten vor und zurück, manchmal so heftig, als stieße eine Hand sie von innen beiseite. Aber noch blieb der

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