Herrin der Lüge
Bethanier unsichtbar.
Maria war jetzt gut fünfzehn Schritt von dem Schlachtross entfernt. Das Tier gab keinen Laut von sich.
Langsam bewegte sie sich die Anhöhe hinauf, an deren Fuß der sumpfige Weidenwald begann. Der Hang stieg nur sanft an, der Hügel war kaum mehr als eine Welle in der Ebene. Das Gras reichte Maria bis zur Hüfte und strich an ihren Beinen entlang. Insekten stoben auf und bildeten eine kribbelnde Wolke um ihren Kopf.
Maria hob nun doch die Hand und wischte die lästigen Tiere fort. Die fette Fliege auf ihrer Stirn hatte sich an ihrem Schweiß gesättigt und brummte davon. Eine andere, kleinere surrte in Marias Ohr und verschwand gleich wieder. Für ein paar Herzschläge war das Mädchen abgelenkt.
Die Weidenäste teilten sich. Ein schwarzer Handschuh stieß ins Licht, gefolgt von einem Arm, dann Schultern, schließlich dem ganzen Mann. Die Luft schien zu flirren. Metall und Leder knirschten, als der Bethanier aus dem Schatten der Weiden trat und mit energischen Schritten die Anhöhe heraufkam.
Maria ließ sich fallen. Im hohen Gras tauchte sie unter wie in einem grünen See. Vom Fuß des Hangs aus konnte der Bethanier sie jetzt nicht mehr sehen. Erst, wenn er näher käme.
Ganz vorsichtig hob sie den Kopf. Schweiß lief in ihre Augen und brannte. Tränen vermischten sich damit und rannen ihre Wangen hinab.
Zwischen den wogenden Spitzen der Gräser konnte sie nicht bis zum Fuß des Hügels sehen. Höher aber wagte sie den Kopf nicht zu heben. Und wenn sie weiterkroch? Noch war der Wind heftig genug, um den gesamten Grashügel in Bewegung zu halten. Der Ritter würde sie nicht bemerken.
Die Rückkehr zur Straße schied aus. Nicht nur, weil er sie dort zuerst suchen würde, sondern weil eine Flucht dort unmöglich war. Ihre Gedanken überschlugen sich. Bilder aus dem dunklen Stall vermischten sich mit blitzartigen Eindrücken der sterbenden Pilger. Wenn er Maria einfing, würde sie das nächste Opfer der Sichelaxt sein.
Die Weiden!
Nein, unmöglich. Ein erwachsener Mann hatte dem Bethanier dort nicht entkommen können. Und sie war nur ein Kind. Viel langsamer als er – aber andererseits auch kleiner. Sie passte in Verstecke, die einem ausgewachsenen Mann keinen Schutz boten. Sie konnte sich hinter Baumstämmen verbergen. Hinter Bündeln aus Weidenzweigen. Sogar unter Wurzeln.
Sie musste es versuchen.
Wo war er? Ein letzter Blick durch die Gräser. Seine kolossale Gestalt blieb unsichtbar. Das Schlachtross stieß ein helles Wiehern aus.
Lauf! Nun lauf schon!
Aber sie rannte nicht los. Noch nicht. Stattdessen ließ sie sich ein Stück weit seitlich den Hang hinabrollen, drückte Grashalme nieder und musste nun deutlich zu sehen sein, falls er in ihre Richtung blickte.
Ich bin nicht schnell genug, dachte sie. So geht das nicht. Ich muss laufen!
Ohne sich umzuschauen, sprang sie auf und rannte auf ihren kurzen Beinen hangabwärts. Hinter ihr ertönte ein neuerliches Wiehern. Sie hörte das Rasseln seines Kettenhemdes. Aber keinen Befehl, sofort stehen zu bleiben. Auch keine Drohung.
Noch zehn Schritt bis zu den vorderen Trauerweiden. Der Boden wurde hier weicher, schlammiger. Da begriff sie, dass sie in sumpfiges Gelände rannte. Immerhin, das kannte sie von zu Hause. Sie wusste, wie man sich im Sumpf verhielt. Ihr Vater hatte es ihr immer wieder erklärt, bevor –
Hör auf!, schrie es in ihr. Du wirst nur heulen und langsamer werden. Aber du musst jetzt schnell sein. Und gewandt.
Fünf Schritte.
Drei.
Die herabhängenden Peitschen der Trauerweiden schlugen ihr ins Gesicht, als sie ungebremst durch den schaukelnden Vorhang stürmte. Hinter ihr ertönte dumpfes Trampeln, als der Bethanier sich näherte. Sie sah nicht hin, als zwänge etwas ihr Gesicht nach vorn. Sie war noch niemals von jemandem gejagt worden, höchstens zum Spaß von ihren Brüdern. Aber sie ahnte, dass sein Anblick sie versteinern würde.
Ihre Füße patschten in Pfützen zwischen den Bäumen. Die Weiden bildeten natürliche Kammern, baumelnde Zweige wurden zu Wänden. Manchmal hatten sich die Peitschen zu Geflechten verwoben, in denen man sich allzu leicht verfangen konnte.
Hinter ihr explodierten die Weidenschnüre nach innen, als der Bethanier auf Marias Spur durch das Dickicht brach. Warum rief er sie nicht?
Das Klatschen ihrer Füße übertönte die Laute in ihrem Rücken. Vom Hügel aus hatte sie gesehen, wie weit sich die sonderbare Landschaft erstreckte – unendlich weit für ein Kind –, aber
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