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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Zinnen, und es gab einen hohen Bergfried, der das umliegende Land weit überragte. Westlich des Lerchbergs lagen jenseits eines Waldstreifens ausgedehnte Güter. Saga hatte einmal gehört, dass die Abgaben aus sieben Dörfern nötig waren, um einen Ritter und seine Burg zu unterhalten. Die Grafschaft Lerch hatte weit mehr als sieben Ortschaften zu bieten, doch die Tage verschwenderischen Reichtums waren seit dem Bürgerkrieg vorüber. Es hieß, Graf Gahmuret habe seinen Freund Philipp von Schwaben bei dessen Kampf um die Krone großzügig mit Gold unterstützt und dafür sogar Teile seiner Ländereien beliehen. Heute tat die Gräfin ihr Möglichstes, die Güter des Hauses Lerch zurück zu altem Glanz zu führen und die Freundschaft zum früheren König vergessen zu machen. Doch der Schatten des allmächtigen Kaisers, der jederzeit wieder auf sie fallen konnte, machte es ihr schwer, tüchtige Lehnsmänner auf ihre Höfe zu locken. Die Lage schien verfahren, und die Ahnung allmählichen Niedergangs hing schwermütig über der Gegend.
    Trotz alldem hatte sich die Entscheidung von Sagas Vater, seine Familie hierher zu führen, als eine glückliche erwiesen. Die Menschen, dankbar für ein wenig Spaß und Unterhaltung in finsteren Zeiten, hatten großzügig die Schalen der Mädchen gefüllt. Der Lohn für die vergangenen Tage übertraf bereits jetzt den ihrer letzten Auftritte oben im Norden.
    Saga bewegte sich noch immer nicht, während sie weiterhin die Zinnen der Burg beobachtete. Soldaten patrouillierten dort oben, Männer in den weißen, wappenlosen Steppwämsern der Burgwache. Die schwere Zugbrücke war verschlossen und würde wohl erst bei Tagesanbruch wieder herabgelassen werden. Vor dem Tor und rechts davon erstreckte sich ein Wassergraben um den Fuß der östlichen Mauer; er war von Menschenhand ausgehoben worden und speiste sich aus einer Quelle, die zwischen ein paar Felsen auf dem Bergrücken entsprang. Links vom Tor ging das Ufer des Grabens in eine Wiese über, die schon nach wenigen Schritten an einer schroffen Felskante endete. Zur Westseite hin fiel der Lerchberg steil ab, von dort aus schien es nahezu unmöglich, in die Feste einzudringen. Gerade deshalb legte Saga ihr größtes Augenmerk auf diesen Teil der Mauern.
    Sie warf einen zögernden Blick zurück zum Wagen, dann gab sie sich einen Ruck, löste sich aus seinem Schatten und ging los. Sie unterdrückte den Drang zu rennen, denn das hätte bei den Wächtern auf den Zinnen für Argwohn gesorgt. Scheinbar ziellos schlenderte sie durchs Lager vor der Burg, als könnte sie in der sternklaren Nacht keinen Schlaf finden.
    Sie wanderte nach Westen. Das letzte Stück legte sie im Schutz tiefer Schatten zurück, zwischen einigen Wagen und Zelten, die nah an der Steilwand des Lerchberges standen.
    Die Westmauer wuchs nicht übergangslos aus dem Fels. Vielmehr bildete der Berg am Fuß der Burg einen schmalen Wulst aus Felsbuckeln, die unten entlang der Mauer verliefen. Eine geschickte Artistin konnte mühelos darüber hinwegbalancieren – und mit ein wenig Glück die Mauer selbst an Fugen und Vorsprüngen ersteigen.
    Zuletzt war es viel leichter, als sie erwartet hatte. Behände schob sie sich an dem groben Mauerwerk empor. Nur ein einziges Mal geriet sie in Bedrängnis, als eine Windbö aus dem Nichts an der Burg vorüberfegte. Saga konnte sich gerade noch festklammern, die nackten Zehen tief in eine Mauerfuge gepresst, ihre Finger um die Kanten rauer Steinblöcke gekrallt. Sie spürte Blut über ihren Handrücken laufen, als sie sich die Nagelbetten einriss. Ein Krampf loderte in ihrem linken Fuß, so schmerzhaft, dass sie schreien wollte und sich auf die Unterlippe biss. Für eine Weile schien das ganze Unterfangen zum Scheitern verurteilt.
    Doch der Wind kam nicht wieder, und wenig später erreichte sie die Zinnen. Sie hatte kein einziges Mal nach unten gesehen. Große Höhen machten ihr längst keine Angst mehr.
    Wie sie erwartet hatte, konzentrierten die Wachen ihre Aufmerksamkeit auf die Süd- und Ostseite der Burg. Dort befanden sich das Lager und der Weg zum Tor. Weiter entfernt führte die alte Handelsstraße durch die Wälder, von der es hieß, sie folge dem Verlauf eines ungleich älteren Weges aus vergessenen Tagen.
    Über die Zinnen zu klettern war ein Kinderspiel. Zwischen einem Fass mit Trinkwasser, aus dem sich die Wächter mit hölzernen Kellen bedienen konnten, und der Brüstung einer Treppe ging sie in Deckung. Unter ihr lag der Burghof.

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