Herrin der Lüge
ovaler Stein von hellstem Türkis, nicht größer als ein Daumenglied, eingefasst in ein Netz aus Silber.
Sie kannte ihn gut. Er gehörte Faun.
Irgendwann hörte sie auf, ihre Fragen hinaus in das Schweigen zu brüllen. Sie legte sich aufs Bett, die Beine angezogen, Fauns Stein an ihre Wange gepresst. Sie erinnerte sich an den Sommer, als er mit dem Anhänger am Hals aufgetaucht war und behauptet hatte, er sei das Ei eines Drachen. Sie hatte ihn ausgelacht, aber als er sie bat, keinem der anderen von seinem Geheimnis zu erzählen, hatte sie sich seinem Wunsch gefügt und Stillschweigen bewahrt. Für Saga gehörte der Anhänger so untrennbar zu Faun wie sie selbst.
Die Tränen rannen ihr die Wangen hinunter, und sie machte nicht einmal den Versuch zu verstehen, was hier passierte. Hundert Fragen. Tausend mögliche Antworten.
Am nächsten Morgen brachte ihr jemand Essen, eine mausgraue Magd, die ebenso gut hätte stumm sein können. Auf dem Korridor klirrte Eisen, eine sanfte Ermahnung, dass jeder Fluchtversuch zwecklos war. Saga überschüttete die Frau mit Fragen, flehte sogar noch, als die Tür sich längst hinter ihr geschlossen hatte. Sie erhielt keine Antwort.
Ein weiterer Tag, eine weitere Nacht, Bald eine Woche.
Und noch immer keine Erklärungen.
Mehrmals am Tag lief sie zur Tür ihres Zimmers und hämmerte dagegen. Anfangs häufig, zuletzt immer seltener. Es machte keinen Unterschied. Hinter der Tür herrschte noch immer Totenstille, genauso wie vor ihrem vergitterten Fenster nur die Leere des Himmels zu sehen war.
Ihre Tränen versiegten, nicht jedoch die Gedanken, die Erinnerungen, das Schuldbewusstsein, das sie empfand, wenn sie an Faun dachte.
Je mehr Zeit verstrich, desto öfter schoss Saga durch den Kopf, dass überhaupt nichts mehr passieren würde. Dass sie für immer in diesem Turmzimmer eingesperrt bliebe, gefangen in ihrer eigenen Einsamkeit und Verzweiflung. Deswegen war sie fast dankbar, als die Magd ihr am Morgen des neunten oder zehnten Tages das Buch brachte.
Irgendjemand musste ihr den Befehl dazu gegeben haben, und Saga nahm das als Bestätigung, dass sie vielleicht doch nicht vergessen worden war. Und auch wenn sie nicht lesen konnte, begann sie sich die kunstvollen Bilder auf den Seiten anzuschauen; der von Hand kopierte Codex war zweifellos mehr Gold wert, als ihr Vater in seinem ganzen Leben verdienen würde. Sie vermutete, dass es sich um eine Bibel handelte. Sie kannte ein paar der Geschichten in der Heiligen Schrift, und sie entdeckte bekannte Szenen in den Illuminationen und Vignetten.
Wenn sie nicht in dem Codex blätterte, saß sie meistens auf dem schmalen Bett und sah durch die Gitterstäbe auf den fernen Himmel, an dem sich Helligkeit und Dunkelheit in regelmäßiger Folge abwechselten. Um sich Bewegung zu verschaffen, lief sie an der Wand des weitläufigen Zimmers entlang, Runde um Runde, und ihre Gedanken liefen dabei mit ihr im Kreis.
Anfangs dachte sie oft an ihre Eltern und jüngeren Geschwister. In den ersten Tagen hatte es wehgetan, aber das hatte bald aufgehört. Sie zweifelte nicht, dass ihr Vater mit den anderen weitergezogen war. Seit dem Tod seiner ältesten Söhne ging er jedem Konflikt mit der Obrigkeit aus dem Weg.
Eine Weile lang würde die Familie es schwer haben, ohne Sagas Seiltanz, vor allem aber ohne den Lügengeist.
Aber Martha balancierte schon jetzt recht gut, und ihr Vater würde dafür sorgen, dass sie besser wurde. Noch ein paar Jahre, ein paar Narben mehr, und sie würde so geschickt sein wie Saga.
Auf den Lügengeist allerdings mussten sie verzichten. Keines der jüngeren Mädchen besaß das Talent der Trugstimme.
Doch auch Saga versagte der Lügengeist hier in der Gefangenschaft des Burgzimmers seinen Dienst. Sie hatte versucht, die Magd mit seiner Hilfe zu überzeugen, ihr zur Flucht zu verhelfen, aber das hatte keinen Erfolg gezeigt. Die Frau wollte ihre Lügen nicht glauben, man mochte ihr Gott weiß was über Saga erzählt haben. Zweifellos war sie überzeugt, dass die Gauklerin zu Recht im Bergfried festgehalten wurde. Saga indes hätte alles gegeben, um den Grund zu erfahren.
Sie war nicht sicher, wie lange der Lügengeist schon in ihr wohnte. Vielleicht seit ihrer Geburt. Vielleicht auch erst seit dem Tag, an dem sie zum ersten Mal mit seiner Hilfe gelogen hatte. Es war ganz wie von selbst geschehen. Plötzlich war er da gewesen, und mit ihm ihr Talent für die Lüge.
Es hatte nicht lange gedauert, ehe sie seine einzige Regel
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