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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Tagsüber war er voller Zelte, Stände und Menschen gewesen. Nun aber lag er verlassen da, und er erschien Saga ungleich größer als noch vor wenigen Stunden. Sie hatte nicht bedacht, wie schwierig es sein würde, ungesehen über die offene Fläche zu gelangen. Selbst wenn sie sich im Schatten der Mauern bewegte, war sie von den Zinnen aus leicht zu entdecken.
    Es half alles nichts, sie musste weiter. Wenn sie länger hier sitzen blieb, würden ihr nur noch mehr Dinge einfallen, die schief gehen konnten. Dabei hatte sie nicht einmal darüber nachgedacht, wie sie Faun tatsächlich aus dem Kerker befreien wollte. In die Burg zu gelangen, vielleicht sogar in seine Nähe, war die eine Sache. Ihn aber von hier fortzubringen eine ganz andere. Sie bezweifelte, dass er es die Mauer hinunter schaffen würde. Klettern war nicht seine Stärke.
    Geduckt huschte sie die Treppe hinunter. Die Burgwachen auf der Mauer – sie zählte vier – taten ihr den Gefallen und blickten weiterhin nach außen. Solange keinem einfiel, sich herumzudrehen, war sie einigermaßen sicher.
    Die unterste Stufe, dann der festgetrampelte Lehm des Burghofs. Auf geradem Weg waren es von hier bis zum Portal des Palas etwa fünfzig Schritt; schob sie sich mit dem Rücken an der Mauer entlang, fast das Doppelte. Dabei konnte sie die Deckung ausnutzen, die ihr die Überbleibsel des Marktes boten. Noch am späten Abend hatten Bedienstete damit begonnen, die liegen gebliebenen Abfälle aufzusammeln und in große Tuchplanen einzuschlagen. Diese Bündel, einige fast mannshoch, waren an die Ränder des Hofes gezerrt worden, damit sie den Karren der Händler und Bauern bei ihrer Abfahrt nicht im Wege standen. Saga boten sie Gelegenheit, sich vor unerwünschten Blicken zu schützen.
    Die zweiflügelige Tür des Palas war angelehnt, als Saga sie erreichte. Zum ersten Mal kam Misstrauen in ihr auf. Welcher Burgverwalter, dessen Herrin die Rache des Kaisers fürchten musste, war so nachlässig, eine Tür nicht zu verriegeln? Schlimm genug, dass es einer Gauklerin gelingen konnte, bis hierhin zu kommen, doch ein solcher Leichtsinn roch nach ausgewachsener Dummheit.
    Oder Absicht.
    Sie hatte den Gedanken kaum gefasst, als hinter ihr ein Schleifen ertönte. Eisen auf Holz und Leder.
    Saga wirbelte herum. Atmete tief ein. Schloss für zwei, drei Herzschläge die Augen.
    »Nicht bewegen«, sagte ein Mann. Das Schwert in seiner Hand war gerade erst aus der Scheide geglitten. Hinter ihm traten fünf weitere Gestalten aus schattenschwarzen Winkeln im Mauerwerk.
    Keiner von ihnen wirkte überrascht, und Saga biss sich auf die Lippen. Wie dumm sie gewesen war! Das, was sie für Nachlässigkeit gehalten hatte, war geplant gewesen.
    Saga wehrte sich nicht, als die Soldaten der Burgwache sie wortlos in ihre Mitte nahmen. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte. Mehr noch, es hätte alles nur viel schlimmer gemacht.
    Im Fackelschein wurde sie ins Innere des Palas geführt, und wenig später bogen die Männer mit ihr in einen steinernen Gang ab, der von verblichenen Wandteppichen gesäumt wurde. Sie passierten geschlossene Türen und stiegen schmale ausgehöhlte Treppenstufen hinauf.
    »Dort hinein«, sagte der Anführer der Burgwache und deutete auf eine Tür, die in Erwartung eines späten Gastes weit offen stand. Hinter Sagas Rücken fiel sie zu. Ein Riegel knirschte an der Außenseite.
    Sagas Blick irrte durch den weitläufigen Raum. Erst nach einem Augenblick erkannte sie, dass sie vom Palas hinüber in den Bergfried gegangen waren, mehrere Stockwerke hoch über dem Innenhof. Das einzige Fenster war vergittert, die Fugen noch frisch, wo die Stäbe ins Mauerwerk eingelassen waren. Das Zimmer war nahezu kreisrund, mit einer einzelnen Geraden auf der gegenüberliegenden Seite des Fensters; dort befand sich die Tür zum Treppenhaus. Auch hier bedeckten Teppiche die Wände, um im Winter die Wärme des offenen Kamins zu halten. Von der Decke blätterten schlichte Malereien. Es gab ein großes Bett, das eher einem Gast zugestanden hätte als einer Gefangenen, und eine glasierte Tonschüssel mit frischem Wasser. Auf der Matratze aus Samt und gestopftem Stroh lag ein schlichtes Kleid in Erdfarben.
    Saga rührte sich nicht. Ihre Panik ließ sie innerlich gefrieren, unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen.
    Sie war erwartet worden. Jemand war erwartet worden. Aber wirklich sie !
    Dann entdeckte sie den Anhänger, der an einem Lederbändchen auf dem Kopfkissen lag. Es war ein

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