Herrin der Lüge
geglaubt hatte, war dies nach der zwangsweisen Aufnahme der fünfzig Geistlichen und dem Erscheinen Karmesins der dritte und offensichtlichste Hinweis darauf, dass ihre Suche nach Gahmuret noch immer auf tönernen Füßen stand. Wie es aussah, hatten die Templer, die Johanniter und der Ordo Teutonicorum Gesandte beauftragt, die bereits vor einigen Tagen vom Heiligen Land aus in See gestochen waren; sie wollten der Flotte der Frauen irgendwo auf dem Meer begegnen und die Magdalena einer Befragung unterziehen. Da es Violante letzten Endes auf nichts so sehr ankam wie die Unterstützung der Ritterorden, blieb ihr keine andere Wahl, als sich darauf einzulassen. Seither hatte sie die Kapitänskajüte nicht mehr verlassen. Sogar Angelotti hielt sich von dort fern, weniger aus Rücksicht als aus Unlust, sich mit dem streitbaren Weibsbild anzulegen.
Saga löste die Finger vom Rand des Mastkorbs und saß nun freihändig auf der hölzernen Umfassung. Ein scharfer Wind blies ihr in den Rücken. Sie genoss das Gefühl, sich dagegen lehnen zu müssen, um nicht vornüberzufallen. Die beiden Wächterinnen standen tief unter ihr, zwei winzige graue Punkte. Weitere Kriegerinnen wanderten an der Reling und am Kai auf und ab.
Ihr Blick suchte die beiden Gestalten vor der Häuserfront, aber sie waren aus dem Dunkel der Gasse nicht wieder aufgetaucht. Auch sonst zeigte sich niemand, nicht einmal die Betrunkenen, die bislang in jeder Nacht dort draußen umhergestolpert waren und sehnsuchtsvolle Oden an das Jungfrauenheer gekrächzt hatten.
Eine Bewegung ließ Saga die Stirn runzeln. Da war doch noch jemand. Der Schatten eines Häuserspalts – war das dieselbe Gasse wie vorhin? – sonderte einen dunklen Schemen ab, eine schwarze Träne, die aus der Finsternis tropfte … nein, raste. Nicht groß genug für einen erwachsenen Menschen.
Es musste das Kind sein, das eben an den Häusern entlanggegangen war. Es kam jetzt geradewegs zur Santa Magdalena gerannt, dorthin, wo tagsüber der Landungssteg zwischen Deck und Uferkante lag. Bei Nacht wurden die Planken eingezogen.
Eine Wächterin mit Fackel trat der kleinen Gestalt entgegen. Das Kind prallte fast gegen sie, blieb gerade noch stehen, streifte mit links die Kapuze zurück und entblößte langes dunkles Haar, Ein Mädchen. Mit der Rechten hatte es seinen Mantel vor der Brust zusammengerafft. Im Fackelschein leuchteten seine nackten Füße unter dem Mantelsaum. Es blieb stehen und schien aufgeregt auf die Wächterin einzureden. Saga war viel zu weit entfernt, um etwas zu verstehen.
In den vergangenen drei Tagen waren immer wieder junge Frauen, sogar Kinder aufgetaucht, um sich dem Heer anzuschließen. Violante hatte sie alle fortschicken lassen. Die Gräfin wollte keine weiteren Mädchen mehr aufnehmen; schon jetzt würde die Versorgung auf See problematisch werden. Auch wenn sie es nie ansprach, hatte sie wohl kaum damit gerechnet, dass in Mailand so viele Frauen auf die Magdalena warten würden. Die Erkenntnis dessen, was sie da ins Leben gerufen hatte, war selbst für sie ein Schock.
Die Wächterin deutete mit der Fackel hinüber zu den Häusern. Sie scheuchte das Kind davon. Saga atmete tief durch, schloss die Augen und versuchte an etwas anderes zu denken. Aber als sie die Lider wieder hob, stand das kleine Mädchen noch immer dort unten und gestikulierte beim Sprechen mit der linken Hand. Es zeigte auf die Gassenmündung, aus der es gekommen war, und als die Wächterin es packen und dorthin zurückschleifen wollte, riss es mit einem Mal seinen Mantel auf und zog etwas darunter hervor.
Saga kniff die Augen zusammen, um den Gegenstand zu erkennen. Er schimmerte blass im Fackelschein. Die Wächterin sprang einen Schritt zurück und ließ ihre Lanze herumwirbeln. Eine Handbreit vor der Brust der Kleinen verharrte die Spitze.
Das Mädchen machte keinen Versuch, sich mit dem Dolch in seiner Hand zur Wehr zu setzen. Es deutete immer wieder mit der linken Hand nach hinten, jetzt sichtlich verängstigt. Saga fragte sich, ob jemand dort in den Schatten wartete, der das Kind zum Schiff geschickt hatte. Der Erwachsene, mit dem es gekommen war. Natürlich.
Sie war versucht, hinunterzuklettern, um persönlich herauszufinden, was sich dort abspielte. Aber sie hielt ihre Neugier im Zaum. Die Distanz zu allem anderen dort unten tat ihr gut. Plötzlich war das nicht mehr ihr Kreuzzug, nicht ihr Schiff, nicht ihre Angelegenheit.
Zwei weitere Wächterinnen hatten ihre Posten verlassen und
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