Herrin der Lüge
Ankunft aber, seit drei Tagen, wurden die Übungen fortgesetzt, in Gruppen, die sich auf den Decks der Galeeren abwechselten. Saga glaubte, dass Berengaria damit nicht nur die Kampfkraft des Heeres gewährleisten wollte. Auch die Ruderer und Seemänner sollten mit eigenen Augen sehen, dass jedes dieser Mädchen in der Lage war, sich zu verteidigen. Nicht nur gegen Sarazenen.
Saga schlenderte zum Hauptmast hinüber. Am Fuß der Wanten blieb sie stehen, lächelte ihren beiden verdutzten Leibwächterinnen zu und machte sich daran, an den Seilen nach oben zu klettern.
Die beiden Frauen wechselten einen Blick, dann zuckte die eine die Achseln. Sie hatten in vielen Schlachten um ihr Leben gekämpft und hielten offensichtlich nicht viel davon, einer einzelnen Frau auf Schritt und Tritt zu folgen, Magdalena hin oder her. Sie nahmen Stellung am Fuß des Mastes und ließen Saga tun, was sie für richtig hielt.
Saga genoss jeden Augenblick ihrer Kletterpartie, und als sie den verlassenen Mastkorb erreichte, hätte sie am liebsten noch einmal von vorn begonnen. Seit Fauns Festnahme auf Burg Lerch war sie über kein Seil mehr gelaufen. Sie hätte nie für möglich gehalten, dass ihr die Höhe einmal fehlen würde, aber jetzt überkam sie jäh ein Gefühl von Freiheit, das sie – und das war das Schlimmste – zuvor nicht einmal vermisst hatte. Sie war jetzt seit Wochen eine Gefangene, wenn es inzwischen auch eine Gefangenschaft geworden war, für die sie sich selbst entschieden hatte. Als sie Zinder gehen ließ, hatte sie die vielleicht einzige Gelegenheit verstreichen lassen, dem allen hier ein für alle Mal den Rücken zu kehren. Doch sie hatte ihre Entscheidung nicht erst in Mailand getroffen, sondern lange davor, auf einer einsamen Bergspitze am Rande der Via Mala.
Hier oben im Mastkorb, allein mit sich und dem Wind, konnte sie die Dinge plötzlich klar sehen. Unter ihr gähnte der Abgrund. Die Tiefe und die Gefahr, die sie barg, waren überall die gleiche, egal ob auf Burg Lerch, auf irgendeinem Marktplatz oder hier an Bord der Santa Magdalena. Plötzlich fühlte sie sich auf diesem Mastkorb, an diesem ungewohnten und fremden Ort, wie zu Hause. Vielleicht, weil sie nie ein echtes Zuhause gehabt hatte. Der Tanz auf dem Seil war die eine große Konstante ihres Lebens gewesen. Selbst Leere kann etwas Vertrautes sein.
Der Wunsch, Faun könnte jetzt bei ihr sein, überkam sie wie ein scharfer Schmerz. Instinktiv blickte sie nach Norden – oder dorthin, wo sie Norden vermutete, weg vom Meer – und fragte sich, wie es ihm gerade erging. Schlimm genug, dass sie sich sein Schicksal vor Augen führen musste, um Violante zu hassen. Ihre Gefühle für die Gräfin waren in ständiger Bewegung, ein Nebel, durch den mal die eine Empfindung, dann wieder das Gegenteil lugte. Nur ihre Liebe zu Faun blieb beständig.
Oder nicht? Wie konnte sie nachts nur ruhig schlafen, solange sie ihn im Kerker von Burg Lerch wusste? Darauf wusste sie keine Antwort, und sie schämte sich dafür.
Statt im Inneren des Mastkorbes stehen zu bleiben, setzte sie sich außen auf seine Brüstung und ließ die Beine baumeln. Der Schein vereinzelter Fackeln, der das Deck der Galeere erhellte, reichte nicht bis hier herauf. Sie stellte sich vor, in völliger Schwärze zu schweben, bis ihr der Mondschein auffiel – und die beiden Gestalten, die an Land vor den Häusern entlangwanderten.
Es musste sich um einen Erwachsenen und ein Kind handeln – vielleicht auch um einen Zwerg –, beide in Kapuzenmäntel gehüllt. Fast im selben Moment, da Saga sie bemerkte, versanken sie im Schatten einer Gassenmündung. Sie seufzte leise und wünschte sich, genauso unsichtbar zu sein.
Ihre Gedanken kehrten zurück zu Faun und sprangen dann unvermittelt in die Zukunft. Morgen würde die Flotte in See stechen. Nach Karmesins eindrucksvollem Auftritt hatte Violante heute eine zweite böse Überraschung erlebt. Saga hatte die Gräfin nie zuvor derart aufgebracht erlebt. Violante hatte getobt, jeden angeschrien, der ihr über den Weg gelaufen war, und selbst Kapitän Angelotti derart zugesetzt, dass er sich überstürzt zu einer Inspektion seines Schiffes verabschiedet hatte.
Kurz nach Sonnenaufgang war ein Bote erschienen, der Violante verkündet hatte, die drei großen christlichen Ritterorden hätten eigene Gesandte abkommandiert, um die Glaubwürdigkeit der Magdalena zu überprüfen. Für Violante, die sich nach dem Segen des Papstes bereits auf der sicheren Seite
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