Herrin der Lüge
Achterkastell.
»Eine Dromone«, flüsterte Tiessa ehrfürchtig. »Eine Kriegsgaleere, viel schneller und wendiger als die trägen Handelsschiffe. Kaufleute segeln nicht auf solchen Schiffen.«
»Piraten?«
»Normalerweise gehören Kriegsgaleeren dem Kaiser oder den Königshäusern. Aber diese hier trägt kein Wappen. Entweder hat jemand sie bauen lassen, der ungeheuer reich ist – oder er hat sie draußen auf dem Meer erbeutet.«
»Und die Venezianer würden so jemanden in ihrem Hafen dulden?«
»Nicht, wenn er ihre Schiffe angreift. Aber wenn es ein Abkommen gäbe und diese Piraten nur Handelsschiffe aus, sagen wir, Genua oder Frankreich überfallen … warum nicht?«
Schon den ganzen Abend über hatte sich gezeigt, dass Tiessa weit mehr über das Meer und seine Gepflogenheiten wusste als Faun; nicht aus persönlicher Erfahrung, behauptete sie, sondern vielmehr aus Reiseberichten. Doch welcher Edelmann ließ seine Tochter in Belangen der Seefahrt unterrichten?
Faun wurde von Bewegungen an Bord der Dromone in seinen Gedanken unterbrochen. Mehrere Silhouetten empfingen Achard und die Afrikaner. Mindestens einer der Männer an Bord trug einen Turban, der Umriss seines Schädels wirkte vor den Lampenkästen wie aufgebläht.
Einzelne Wörter, die der Wind an Land trug, waren ein seltsames Kauderwelsch aus Latein und Deutsch, das Tiessa vermutlich besser verstand als Faun; zumindest das Allerweltslatein, das viele Geistliche benutzten, war ihr in Bruchstücken vertraut.
In ihrem Versteck hinter Kisten warf sie ihm einen Seitenblick zu. »Wir müssen irgendwie versuchen, uns auf dem Schiff zu verstecken.«
Einen Moment lang fehlten ihm tatsächlich die Worte. »Kommt nicht in Frage«, sagte er dann mit einem Kopfschütteln.
»Aber es ist die beste Lösung.«
»Um ermordet zu werden, sicher. Oder in einem hübschen Kleid auf einem Basar zu landen. Oder ohne Kleid. Ist es das, was du möchtest?«
Sie runzelte unwillig die Stirn. »Achard wird Saga und die anderen verfolgen, um seine Jorinde zurückzubekommen. Und das hier ist das schnellste Schiff weit und breit. Es gibt keinen besseren Weg.«
»Das da ist ein Kriegsschiff! Zum Teufel, Tiessa, ein Piratenschiff 1 Und du willst darauf als blinder Passagier mitfahren?« Er ließ den Hinterkopf gegen die Kisten sinken.
»Wir haben zu wenig Geld für eine sichere Überfahrt«, sagte sie. »Und mit jedem Tag, den wir länger in Venedig bleiben, entfernen sich Saga und die anderen von uns. Wie sonst sollen wir sie einholen, wenn nicht damit?« Sie nickte zu der Dromone hinüber, ein imposanter, kaum beleuchteter Gigant jenseits des Kistenstapels.
Er presste die Lippen aufeinander. Obwohl alle Vernunft ihm zuschrie, dass Tiessa an Bord dieses Schiffes einer schrecklichen Gefahr ausgesetzt war – was würden die Piraten ihr wohl antun, wenn sie sie entdeckten? –, und obgleich es allem widersprach, das er sich eben noch vorgenommen hatte – nämlich für Tiessas Sicherheit zu sorgen –, musste er sich eingestehen, dass sie Recht hatte.
»Was ist nun?«, fragte sie leise.
Er sah sie an, tastete mit seinen Blicken ihr schmales Gesicht ab, in dem ihre Augen vor Entschlossenheit blitzten.
Ich dachte, du kennst mich inzwischen ein bisschen«, sagte er sanft.
Sie schüttelte verständnislos den Kopf.
»Ich würde überall mit dir hingehen.« Er hob bebend die Hand und strich ihr übers Haar. »Weißt du das nicht?«
Für einen Moment machte sie sich ganz steif, als wolle sie nicht zulassen, dass seine Berührung sie erreichte. Dann schmiegte sie sich wortlos an ihn. Die Vorstellung, dass ihr etwas zustoßen könnte, wurde schlagartig um ein Vielfaches schmerzhafter.
Sie legte den Kopf zurück und sah ihm in die Augen. Ganz leicht öffneten sich ihre Lippen.
An Bord der Dromone ertönte ein Schrei.
Blutspuren
Was tun die da?« Tiessas Stimme war ein erschrockenes Hauchen, kaum noch verständlich. Faun glaubte, neben seinem eigenen Herzen auch das ihre schlagen zu hören. Seine Hände zitterten noch immer, obwohl sie sich wieder aufgesetzt hatte. Sie blickten jetzt beide verstohlen an den Kisten vorüber zum Schiff.
An Deck der Dromone herrschte Aufregung. Mehrere Stimmen redeten durcheinander, jemand lachte. Dann ertönte der Schrei zum zweiten Mal, gefolgt von einem dumpfen Keuchen. Plötzlich erhob sich eine der Gestalten vom Deck, schwebte höher und höher, strampelte mit den Beinen und hatte die Hände an die Kehle gelegt.
»Sie knüpfen jemanden
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