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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Hof drang das Klirren von Schwertern herauf, begleitet von wildem Geschrei. Saga sprang aus dem Bett, zog sich zum Fenster hinauf und presste ihr Gesicht so fest an die Gitterstäbe, dass ihre Wangenknochen schmerzten. Sie konnte trotzdem nichts erkennen. Der Nachthimmel war dicht bewölkt, selbst die Landschaft am Fuß des Lerchberges lag in völliger Finsternis. Der Burghof befand sich viel zu tief unter ihr, als dass sie ihn aus diesem Winkel hätte überschauen können.
    Ganz in der Nähe gurrte eine Ringeltaube. Saga kannte sie bereits, sie saß oft nahe dem Fenster in der Mauer. Sie wünschte sich, das Tier zu verstehen; es hätte ihr verraten können, was dort unten geschah.
    Die Schreie und der Kampflärm brachen ab, begannen kurz darauf erneut. Schließlich verlagerte sich beides ins Innere eines Gebäudes. Ein Fauchen ertönte, dann tanzten Funken vor dem Fenster aufwärts. Im Hof brannte ein Feuer. Alarmrufe gellten, aufgebrachtes Kreischen.
    Saga wich instinktiv einen Schritt zurück und bemerkte dabei, dass die Geräusche nun auch im Inneren des Bergfrieds erklangen, nicht weit von ihrer Tür entfernt. Dann und wann hallten Schreie durch das Gemäuer, verzerrt, gedämpft, aber nah genug, um Sagas erste Hoffnung in Furcht zu verwandeln.
    Nun wurde überall gekämpft, draußen wie auch drinnen. Funken sah sie keine mehr, das Feuer mochte gelöscht sein. Irgendwo weinten Kinder, vermutlich die der Dienstmägde. Im Turm stank es jetzt nach Rauch, aber das musste nichts bedeuten. Bis der Dunst des gelöschten Feuers die Kammer erreicht hatte, mochte im Hof viel geschehen sein.
    Irgendwann verklang das Singen der Schwerter. Erschöpfte Stimmen riefen durcheinander, ein Mann brüllte aus Leibeskräften nach einem Medicus.
    Alle Muskeln in Sagas Körper waren angespannt. Sie musste sich zwingen, die Erstarrung abzuschütteln und ihr Kleid überzustreifen. Ihre eigenen Sachen hatten irgendwann so erbärmlich gestunken, dass sie sie freiwillig abgelegt hatte. Die Magd hatte sie mitgenommen und nie mehr zurückgebracht. Mit ihnen war auch Fauns Drachenei verschwunden.
    Zeit verstrich. Nichts geschah.
    Dann Schritte vor der Tür. Waren das die Angreifer oder die Verteidiger der Burg? Hatten sie ein ebensolches Interesse an ihr wie die anderen?
    Vielleicht, dachte sie, muss ich jetzt sterben.
    Die Tür flog auf.
    »Mitkommen!«, befahl eine Stimme.

Die Abreise
     
    Überall war Blut. Es klebte auf den Treppenstufen und bildete zerlaufene Fratzen an den Wänden. Manche Flecken sahen aus wie dunkelrote Schatten, die jemandem vom Körper geschnitten worden waren. Und da waren noch weitere Spuren des Kampfes: Auf einem Treppenabsatz lagen drei Finger, einer der Länge nach aufgeschlitzt wie ein ausgenommener Fisch. An einer Mauer klebte etwas Haariges, von dem Saga rasch den Blick abwandte, bevor sie mehr erkennen konnte. Und über allem hing der Gestank von warmem, rohem Fleisch, wie bei den Schlachtfesten, die in vielen Dörfern gefeiert wurden.
    Die beiden Männer, die Saga abgeholt hatten, gehörten zur Burgwache. Das gab immerhin Aufschluss über den Ausgang des Angriffs. Beide wirkten angeschlagen. Ihre weißen Steppwämser waren mit dunklem Blut bespritzt, einer humpelte leicht. Der andere war noch sehr jung, und Saga bemerkte, dass das gezogene Schwert in seiner Hand zitterte. Beide Männer sahen nicht aus, als wären sie dazu aufgelegt, die Fragen ihrer Gefangenen zu beantworten.
    Doch als sie den Fuß der Treppe erreichten und hier unten auf noch größere Verwüstungen stießen – ein Toter lag mit aufgerissenem Bauch vor einem Kamin, die linke Hand in den eigenen Eingeweiden vergraben; ein zweiter lehnte mit dem Rücken an der Wand und starrte mit blutunterlaufenen Augen ins Leere –, fasste sich Saga ein Herz und fragte: »Was ist hier passiert?«
    Keiner der beiden Männer gab Antwort. Der jüngere biss sich auf die Unterlippe und schien gar nicht zu bemerken, dass sie blutete.
    Die Toten trugen Kettenhemden und Helme, der eine sogar eiserne Arm- und Beinschienen. Ihre Ausrüstung war solider und teurer als jene der Burgwache, und Saga fragte sich unwillkürlich, wie viele Getreue der Gräfin nötig gewesen waren, um sie zu besiegen. Ganz sicher hatte es Tote auf beiden Seiten gegeben.
    Sie versuchte es noch einmal, als sie in den ersten Stock des Palas hinaufstiegen, über eine breite Treppe in gelbem Fackelschein.
    »Wer sind diese Männer gewesen?« Sie sprach ihren Verdacht aus, bevor sie über

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