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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hätte. Aber sie fing sich im letzten Moment, schwankte leicht und fuhr sich mit einer Hand an die Wange. Langsam atmete sie ein und aus, ganz tief, so als lindere das den Schmerz.
    »Gut«, flüsterte sie, »das war der Preis für die vergangenen vier Wochen. Der eine Ausrutscher, den ich dir verzeihe. Beim nächsten wird dein Bruder sterben. Und du wirst die Gewissheit haben, dass du die Schuld an seinem Tod trägst, bevor es dir genauso wie ihm ergeht.« Sie straffte sich, massierte sich den Wangenknochen und trat dann wieder direkt vor Saga, ohne Furcht vor einem weiteren Schlag. »Das ist ein Versprechen, Saga. Hast du das verstanden? Ich meine, wirklich verstanden?«
    Saga bewegte sich nicht. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Konnte auch nicht fassen, was sie gerade getan hatte. Alles wurde von Herzschlag zu Herzschlag unwirklicher. Die Blutspritzer auf dem nackten Fuß der Gräfin. Ihre gerötete Wange. Der kalte Blick ihrer grünen Augen. Und kein äußerliches Zeichen von Zorn. Was Violantes Selbstbeherrschung anging, so war sie Saga turmhoch überlegen. Vielleicht, weil auch sie schon seit vielen Jahren über einem Abgrund balancierte, ohne sicheren Boden zu betreten – seit der Kaiserkrönung ihres Feindes Otto von Braunschweig. Länger noch, seit dem spurlosen Verschwinden ihres Gemahls Gahmuret. Violantes Leben war ein einziger Balanceakt. Wer das übersteht, dachte Saga, fürchtet niemanden mehr. Schon gar kein Gauklermädchen mit schlechten Manieren.
    »Warum ich?«, fragte Saga.
    »Das weißt du nicht?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Oh, ich denke doch. Du besitzt etwas, für das ich dich überaus bewundere. Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich bin ausgesprochen neidisch.«
    Aber sie besaß nichts … nur den Lügengeist. Hätte sie gekonnt, sie hätte sich in die Brust gegriffen und ihn herausgerissen wie das Herz eines Fremden. Wie die Last, die er im Grunde genommen immer gewesen war. Ihr ganz persönlicher Fluch.
    Ein Dutzend Fragen brannten ihr auf den Lippen, doch dann stellte sie nur eine: »Was ist mit meinen Eltern?«
    »Was soll mit ihnen sein?«
    »Sie sind abgereist, oder?«
    Ein Schatten huschte über Violantes Züge. War das Bedauern? Saga spürte ein hysterisches Lachen in sich aufsteigen, beherrschte sich aber. Keine Schwäche mehr, nicht vor ihr.
    »Kurz nachdem ich ihnen mitteilen ließ, dass du und dein Bruder in Gewahrsam genommen worden seid, haben sie ihre Sachen gepackt und sind verschwunden.«
    Sagas Mund war trocken, ihre Zunge fühlte sich an wie geschwollen. »Einfach so?«
    Gräfin Violante schien einen Augenblick nachzudenken. »Nein«, sagte sie zu Sagas Erstaunen. »Dein Vater ist zu mir gekommen. Er hat mich angefleht, euch gehen zu lassen. Ich glaube, er liebt dich mehr, als du weißt.«
    Saga senkte den Blick, holte tief Luft, schwieg.
    »Ich habe ihm Geld angeboten«, fuhr die Gräfin fort. »Weit mehr als nötig gewesen wäre. Er hat es nicht angenommen. Er hat mich beschimpft und wäre beinahe auf mich losgegangen – so wie du gerade eben. Ihr seid euch ähnlich, du und er.«
    »Er hat das Geld nicht haben wollen?«
    »Nein. Er schien mir gar nicht zuzuhören – was letzten Endes gut so war, denn sonst hätte er sich fragen können, weshalb ich ihm angeboten habe, ihn für zwei Verbrecher zu bezahlen.
    Mich an seiner Stelle hätte das stutzig gemacht.« Das schattenhafte Lächeln auf den Zügen der Gräfin tat Saga weh, ohne dass sie so recht zu sagen vermochte, weshalb. War es der Spott, den sie darin vermutete? Die Überheblichkeit? Oder, ganz im Gegenteil, der Anflug von Freundlichkeit! Beinahe war das ein noch größerer Hohn.
    Ich will sie hassen, dachte sie. Aber warum ist es nur so schwer, sie richtig einzuschätzen?
    »Wir haben jetzt keine Zeit mehr zum Reden«, sagte Violante. »Später werden wir genug Gelegenheit dazu haben.«
    »Ich soll für Euch lügen«, stellte Saga leise fest. »Das ist es, nicht wahr?«
    Die Gräfin wandte sich ab und ging Richtung Tür. »Später.« Sie hob die Stimme und rief den Wächtern zu: »Bringt sie zu ihrem Bruder. Sie darf ihn sehen, aber nicht mit ihm sprechen.«
    Die Tür ging auf, die beiden Männer traten ein. Der jüngere zitterte noch immer, sein Blick huschte wieder zu dem Blutfleck am Boden.
    »Danach bringt sie zum Wagen«, befahl die Gräfin. »In einer Stunde brechen wir auf.«
    Faun befand sich in einem seltsamen Zustand zwischen Wachsein und Traum. Er kämpfte dagegen an, seit er eingesperrt

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