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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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durchschaut hatte: Wichtig war, dass die Opfer belogen werden wollten. Sie alle glaubten nur das, wovon sie insgeheim längst überzeugt waren. Der eitle Händler, der immer schon vermutet hatte, dass der Himmel selbst ihn beschützte. Eine Frau, die nicht wahrhaben wollte, dass ihr Mann es mit einer anderen trieb. Ein Trunkenbold, der damit prahlte, mehr saufen zu können als jeder andere. Sie alle waren so leicht zu durchschauen gewesen. Mit der Zeit hatte Saga ein Talent dafür entwickelt, die Schwächen der Menschen zu erkennen. Meist genügten nur wenige Augenblicke, vielleicht ein kurzes Gespräch, dann kannte sie den wunden Punkt und stieß ihre Stimme hinein wie einen Dolch.
    Die meisten dieser Auftritte waren derb und unappetitlich gewesen, andere – wie jener der betrogenen Frau – gingen ans Herz. Sie alle aber zielten auf die niedersten Instinkte des Publikums: Schadenfreude und Mitleid. Das sorgte für den Erfolg ihrer Darbietung.
    Und Skrupel? Gewiss, die kannte sie. Mehr als genug. Aber ihr Vater verbot ihr den Mund, wenn sie wagte, sie auszusprechen. Sie wollen es so, sagte er, und dagegen war schwerlich anzureden. Tatsächlich wäre die Stimme des Lügengeistes ohne Wirkung geblieben, hätten die Leute es nicht gewollt.
    Sie tröstete sich damit, dass ihre Lügen zufrieden machten, manche gar glücklich. Jedenfalls für den Augenblick. Und wenn die Opfer aus ihrem Selbstbetrug erwachten, waren die Gaukler und ihr Gold längst über alle Berge.
    Aber immer dann, wenn sie zu genau nachdachte über das, was sie tat, fiel es ihr schwer, sich selbst zu mögen. Es wäre zu einfach gewesen, allein ihrem Vater die Schuld zu geben. War es nicht ihre Stimme? Ihre Entscheidung? Wenn jemand dem Lügen ein Ende machen konnte, dann nur sie selbst.
    Im Turmzimmer hatte Saga Zeit, diesen Gedanken weiterzuspinnen. Es war leichter, über ihre eigenen Fehler nachzugrübeln als über das Schicksal ihres Bruders. Manchmal gelang es ihr gar, eine Weile lang überhaupt nicht an ihn zu denken. Aber wenn die Erinnerung zurückkehrte, kam sie einher mit Schuldgefühlen, Selbstzweifeln und einem Gefühl von Verlust, das sich wie Feuer in ihre Seele brannte.
    Die Magd brachte ihr mehr und noch mehr Bücher. Lauter fromme Schriften, den Bildern nach zu urteilen. Sie war der einzige Mensch, den Saga zu Gesicht bekam. Und sie blieb weiterhin so stumm wie ein Fisch.
    Niemand schien es zu kümmern, ob sie die Bücher lesen konnte. Niemand schien es zu kümmern, dass sie überhaupt hier war.
    Und trotzdem wuchs die Zahl der dicken Bände von Tag zu Tag, bis sie schließlich überall auf dem Boden verteilt lagen. Hin und wieder benutzte Saga sie zu kindischen Spielen, sprang auf einem Bein von einem kostbaren Buchdeckel zum nächsten. Häufiger aber blätterte sie darin, erst widerwillig, dann interessierter. Es gab sonst nichts, um sich die Zeit zu vertreiben. Zumindest hielt es sie davon ab, nur über sich selbst nachzudenken.
    Die Heiligen in den Illuminationen der Codices wurden plastischer, je länger Saga sie betrachtete. Manche schienen sich zu ihr umzudrehen, andere wanderten in den Bildern umher.
    Saga fragte sich, ob man ihr etwas in die Mahlzeiten mischte. Ein Gift, das sie wahnsinnig machte. Oder fügsam.
    Da beschloss sie, nicht mehr zu essen.
    Am Tag darauf erschien die Nonne.
    Eine Erscheinung hätte es in der Tat sein können, denn Saga fand wenig Menschliches an ihr. Die Nonne schwebte in ihrem Gewand zur Tür herein, die Füße unter einem bodenlangen Saum verborgen. Ihre Tracht war schwarz, genau wie die breite Haube, die ihren Kopf und die Schultern bedeckte. Allein ihr Gesicht leuchtete blass zwischen den dunklen Stoffen hervor, kantig wie aus Holz geschnitzt. Ihre Augen blickten flink in jede Richtung, ohne dass sich der Kopf bewegte. An ihrer symmetrischen Knochigkeit war etwas Insektenhaftes, fand Saga. Es fiel leicht, sie abscheulich zu finden.
    Die Tür wurde von außen zugeworfen, noch bevor Saga sie erreichen und sich hinauszwängen konnte. Die Nonne blieb in der Mitte des Raumes stehen, ohne sich zum Eingang umzudrehen. Wortlos wartete sie, bis Saga es aufgab, an der schweren Klinke zu rütteln und Verwünschungen gegen das Holz zu brüllen. Ohne eine Regung stand die Frau da, eingesponnen in wallendes Schwarz wie eine Aussätzige.
    Saga näherte sich ihr vorsichtig von hinten und umrundete sie langsam. Der Kopf unter der schmalen Haube war stur nach vorn gewandt, doch als Saga auf Höhe ihres Profils

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