Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
kam, bemerkte sie, dass die Blicke der Frau sie bereits erfasst hatten. Fortan folgten sie jedem ihrer Schritte, bis sich die beiden Auge in Auge gegenüberstanden.
    Saga sprudelte ihre Fragen hervor. Wie geht es Faun? Warum bin ich hier? Was wollt Ihr von mir? Wer seid Ihr überhaupt?
    Auf keine davon erhielt sie eine Antwort.
    Die Nonne musterte sie schweigend, und Saga kam mit einem Mal der beunruhigende Gedanke, dass diese Frau womöglich all die Tage lang vor der Tür gestanden hatte, so als wäre die Stille dort draußen von ihr ausgegangen wie ein unangenehmer Geruch. So als müsste ein Schweigen wie dieses einen Ursprung haben.
    Unsinn, dachte sie. Nur eine fromme alte Frau. Und sie kann nicht gutheißen, was man dir antut. Niemand hat ein Recht dazu. Vielleicht kann sie dir helfen.
    Saga verlegte sich aufs Bitten, dann aufs Flehen. Man möge sie gehen lassen. Und ihren Bruder auch. Sie hätten doch beide niemandem schaden wollen. Wirklich nicht.
    »Bitte«, sagte sie noch einmal ganz zum Schluss, müde geworden von dem vielen Gerede, auf das keine, nicht einmal die geringste Reaktion erfolgte.
    Die Nonne starrte sie nur an.
    Ihre Augen waren dunkel wie ihre Tracht, Schattenlöcher, in die zerklüftete Hautfalten wie Felsspalten mündeten. Sie musste sehr alt sein, aber sie war hochgewachsen und hielt sich gewissenhaft gerade. Ihr Auftreten strahlte unerbittliche Strenge aus, gegen sich selbst genauso wie gegen andere.
    »Warum redet Ihr nicht?« Plötzlich war die Vorstellung, der grässlichen Frau die Augen auszukratzen, ungeheuer verlockend.
    Noch immer blickte die Nonne sie an, nicht durch Saga hindurch, sondern auf einen Punkt zwischen ihren Augen fixiert So als versuchte sie, Sagas Gedanken zu lesen. Oder sie einer Prüfung zu unterziehen.
    »Sprecht mit mir!« Saga machte einen Schritt auf die Nonne zu. Sie hätte nur die Arme ausstrecken müssen, um die Finger in ihre Augenhöhlen zu stoßen. Es würde gut tun, sich an jeman dem zu rächen für das, was sie hier durchmachte.
    Die schmalen Lippen der Nonne öffneten sich, aber die Worte schienen erst verspätet aus ihrer Kehle zu kommen.
    »Eine Spielmännin!«, sagte sie eisig. »Ich wollte dich mit eigenen Augen sehen. Und, bei Gott, es ist wahr. Sie zieht eine Spielmännin vor und macht sie zur Magdalena.«
    »Was?« Wovon redete sie da? Wer oder was war eine Magdalena ? »Ich verstehe nicht –«
    »Nicht mehr lange«, sagte die Nonne. »Gott helfe uns allen.« Dann drehte sie sich um und glitt zurück zur Tür.
    Saga sprang vor und verstellte ihr den Weg.
    »Nicht mehr lange bis was?« Ihre Stimme überschlug sich Sie wollte zornig klingen, vielleicht kaltschnäuzig. Stattdessen war ihr Unterton so flehend, dass sie sich selbst dafür hasste. »Bis man mich umbringt? Oder freilässt?«
    »Geh zur Seite, oder du wirst diesen Raum nie ehr verlassen.«
    Saga zögerte – und wich aus. Gerade weit genug dass die Nonne sie passieren konnte. Der schwarze Stoff streifte ihren Arm. Sie bekam eine Gänsehaut.
    Die Nonne klopfte mit einem bleichen Fingerknöchel gegen die Tür. Auf der anderen Seite quietschte der Riegel.
    »Du musst essen«, sagte die Frau, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Du musst stark sein für den langen Weg, der vor dir liegt.«
    »Welcher lange Weg?«
    Die Tür schwang auf.
    »Welcher Weg?«
    Die Nonne schwebte hinaus.
    Türschlagen. Riegelknirschen.
    Saga war allein. Und hungrig.
     
    Sie aß wieder, sobald die Magd ihr etwas brachte. Sie trank mehr Wasser als zuvor und begann mit einfachen Übungen, um beweglich und bei Kraft zu bleiben. Sie balancierte auf der Bettkante, machte Überschläge aus dem Stand heraus, lief auf den Händen und machte Klimmzüge an den Gitterstäben des Turmfensters.
    Ihre Wahrnehmung normalisierte sich. Bald waren die Heiligen in den Büchern wieder erstarrt. Keiner wandte mehr den Kopf zu ihr um. Sie waren einfach nur gemalte Gestalten, nicht einmal lebensecht.
    Ein langer Weg, also. Ihren Tod konnte das nicht bedeuten. Weshalb hätte sie zum Sterben bei Kräften sein müssen?
    Wohin aber sollte sie gehen? Wohin wollte man sie bringen? Und was bedeutete es, jemanden zur Magdalena zu machen?
    Letztlich aber war alles besser, als länger in dieser Kammer festzusitzen. Irgendwo da draußen war Faun. Vielleicht würde sie ihn wiedersehen. Womöglich gar die Wahrheit erfahren. Die Gründe für ihre Gefangenschaft.
    Sie war bereit.
    Am Ende der dritten Woche erwachte sie nachts von Geräuschen. Aus dem

Weitere Kostenlose Bücher