Herrin der Lüge
mögliche Folgen nachdachte: »Soldaten des Kaisers?«
Das Gesicht des älteren Soldaten ruckte zu ihr herum, und einen Moment lang fürchtete sie, er würde sie schlagen. Dann aber blickte er wieder starr nach vorn. Es war gut, er musste nichts sagen. Sie hatte die Antwort in seinem verzweifelten Blick gelesen, dem Blick eines Mannes, dem heute Nacht klar geworden war, dass er auf der falschen Seite eines aussichtslosen Konflikts stand.
Auch hier oben gab es Zeugnisse eines erbitterten Kampfes. Eine totenbleiche Magd schleppte gerade zwei Wassereimer und Putzlappen herbei, eine andere hockte schluchzend auf den Knien und wischte mechanisch an einem Blutfleck herum, der davon nur größer wurde. Sie sah aus verheulten Augen zu Saga auf, als die Soldaten sie vorüberführten.
Vor einer Doppeltür in der Mitte eines breiten Steinkorridors blieben die Soldaten stehen. Der ältere, steckte sein Schwert in die Scheide und pochte ans Holz.
»Herein mit ihr!«, sagte eine Frauenstimme. Saga ahnte, wer sie dort drinnen erwartete. Aber seltsamerweise spürte sie nur noch einen Schatten des unbändigen Zorns, der sie all die Wochen gequält hatte. Sie hatte gehofft, sie käme nahe genug an Gräfin Violante heran, um ihr an die Kehle zu gehen. Doch jetzt war ihre Wut … nein, nicht verflogen, aber doch so weit in den Hintergrund gerückt, dass sie Mühe hatte, überhaupt an etwas anderes als die Leichen unten in der Halle zu denken.
Der Soldat öffnete die Tür und schob Saga hinein. Die Kammer war geräumig, doppelt so groß wie ihre eigene im Bergfried. Bestickte Wandbehänge schmückten die Mauern. Einer zeigte eine Jagdszene in tiefen Wäldern, über deren Wipfeln der Umriss der Lerchburg thronte. Auf einem anderen war der Zug der Tiere ins Innere der Arche Noah zu sehen. Die Zimmerdecke hatte man mit Sternen und Tierkreiszeichen bemalt, eine prachtvolle Farbenfülle aus Blau und Rot und Gold. Auf Truhen und Mauersimsen brannten Kerzen aus billigem Talg, nicht aus Wachs, wie Saga es im Haus einer Edeldame erwartet hätte.
Die schlanke Frau, die mit dem Rücken zum Eingang vor einem flackernden Kaminfeuer stand, drehte sich langsam um. Ihr langes hellblondes Haar war zu einem nachlässigen Knoten geschlungen und mit einer einzigen Nadel befestigt. Sie war in einen kostbaren Mantel gehüllt, den sie mit beiden Händen vor ihrer Brust zusammenraffte; darunter schaute der Saum eines schlichten Nachtgewandes hervor. Ihre Füße waren nackt, und Saga erkannte getrocknete Blutspritzer auf ihrem rechten Fußrücken. Auch auf halber Strecke zwischen der Tür und dem herrschaftlichen Bett befand sich eine Blutlache.
Jemand ist dort gestorben, dachte Saga. Jemand wollte die Gräfin ermorden und ist dort vorn erschlagen worden. Kurz vor dem Ziel!
Gräfin Violante folgte Sagas Blick zu dem Fleck, dann gab sie den Wachmännern einen Wink. »Lasst uns al lein.«
Der jüngere schien zu zögern, wurde aber von dem anderen hinausgeschoben. Saga fand den Befehl ebenso erstaunlich wie er.
Violante schenkte dem Jungen ein Lächeln. »Sie wird mir nichts zu Leide tun.«
Saga war sich dessen nicht ganz so sicher.
Die Tür wurde mit einem Scharren zugezogen. Saga hörte keine Schritte. Die beiden Soldaten blieben in Rufweite.
»Komm näher.« Die Gräfin machte eine einladende Bewegung. »Es ist wärmer am Feuer. Und wir werden noch genug frieren in der nächsten Zeit.«
Saga rührte sich nicht von der Stelle. »Wo ist mein Bruder?«
»In Sicherheit.«
»Wo ist er?«
»In dieser Burg. Er ist wohlauf. Du brauchst dir um ihn keine Sorgen zu machen.« Eine winzige Pause, dann: »Jedenfalls nicht, solange du tust, was ich dir sage. Und nun komm ans Feuer.«
Saga machte ein paar langsame Schritte, bis sie die Wärme der Flammen spürte. Für eine Frühsommernacht war es in den Fluren und Treppenhäusern der zugigen Burg erstaunlich kühl, und das nahe Feuer tat gut. Gegen ihre Gänsehaut kam es trotzdem nicht an.
Gräfin Violante von Lerch war hochgewachsen, einen halben Kopf größer als Saga. Aus der Nähe war zu erkennen, wie sehr die Ereignisse der letzten Stunde sie mitgenommen hatten. Ihre hellgrünen Augen waren geschwollen, so als hätte sie Tränen unterdrückt, die noch immer darauf warteten, über ihr Gesicht zu rollen. Wenn sie schwieg, spannten sich die Muskeln unter ihren Wangen, und ihre Kiefer mahlten. Sie hatte eine alte Narbe unter dem linken Auge, die aussah, als stammte sie von einem Vogelschnabel. Die Falknerei
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