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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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war beliebt unter Edelleuten; möglich, dass Violante sich dabei verletzt hatte. Für eine Frau, der man gerade erst nach dem Leben getrachtet hatte, machte sie trotz allem einen erstaunlich gefassten Eindruck.
    »Saga«, flüsterte sie leise, als müsste sie über diesen Namen nachdenken. Dann atmete sie tief durch. »Wir haben wenig Zeit. Geh ans Fenster und schau in den Burghof.«
    »Warum?«
    »Tu’s einfach.«
    Saga blieb stehen. »Ich will Faun sehen.«
    »Das wirst du. Aber erst, wenn du hinausgeschaut hast.«
    Mit unsicheren Schritten trat Saga an eines der beiden Fenster. Das Brett, mit dem es für gewöhnlich verschlossen wurde, war bereits herausgenommen und am Boden abgestellt worden.
    Die Nacht war noch immer stockdunkel. Fackeln und Feuerbecken erhellten einzelne Teile des Hofes, aber jedes dieser erleuchteten Gebiete wirkte isoliert von den anderen. Menschen eilten darin umher, verschwanden in den dunklen Flecken zwischen den feuerbeschienenen Arealen und tauchten anderswo wie aus dem Nichts wieder auf. Nahe des Tors waren vier Leichen übereinander gelegt worden, die beiden aus der Halle wurden gerade herangebracht; zwei Diener bedeckten den makaberen Hügel mit einer Plane. Bei den sechs Männern musste es sich um die toten Eindringlinge handeln. Man würde sie später ins Freie schaffen und verscharren, oder aber jenem zurückschicken, der sie ausgesandt hatte. Der Kaiser würde nicht erfreut sein, wenn ihn auf den Schlachtfeldern Süditaliens die Nachricht über den misslungenen Anschlag erreichte.
    In der Mitte des Burghofes standen drei Pferdekutschen, schmucklose Holzkästen mit hellen Vorhängen hinter den Fenstern. Vor jede waren zwei Rösser gespannt, große, muskulöse Tiere. Mägde und Dienstboten luden Kisten und Säcke ins Innere oder verschnürten sie auf den Dächern der Kutschen.
    Einer der Wagen hatte Gitterstäbe vor den Fenstern. Saga erinnerte sich an die Worte der unheimlichen Nonne.
    »Glaubt Ihr wirklich, Ihr könnt vor dem Kaiser davonlaufen?«, fragte sie, drehte sich aber erst nach einem Augenblick zur Gräfin um.
    Das schöne Gesicht der Frau schien zu beben, aber das mochte auch vom Flackerschein des Kaminfeuers rühren. In ihrer Stimme lag ein gespannter Unterton, der sie bedrohlicher wirken ließ als jeder Wutausbruch. »Ich laufe nicht davon. Unsere Abreise ist seit langem geplant. Der … Vorfall von heute Nacht hat mich nur veranlasst, unsere Reise um ein paar Tage vorzuverlegen.«
    »Unsere Reise?«
    »Ich weiß, dass Gunthild bei dir war. Und was sie zu dir gesagt hat.« »Die Nonne?« Die Gräfin nickte.
    »Sie hat von einem langen Weg gesprochen.« Tief in Saga regte sich der Wunsch, zu brüllen und um sich zu schlagen, doch nach außen hin bewahrte sie Ruhe. Es war wie bei einem ihrer Auftritte auf dem Seil: Du kannst alle Angst der Welt haben, aber nach außen hin darfst du sie nicht zeigen. Sonst packt dich der Abgrund und reißt dich hinab.
    »Ein langer Weg, in der Tat«, wiederholte die Gräfin. Saga fand, dass sie nicht älter aussah als dreißig, obwohl das täuschen musste. In Wahrheit waren es sicher zehn Jahre mehr. Keine junge Frau mehr, aber auch noch keine alte. »Du bist es ja gewohnt, zu reisen.«
    »Und wenn ich mich weigere?«
    »Warum solltest du das tun? Ich habe deinen Bruder.« Die Drohung wurde mit einer solchen Unschuldsmiene vorgebracht, dass es Saga für einen Moment die Sprache verschlug.
    »Ihr wollt ihm … etwas zu Leide tun?« Ihre äußerliche Gelassenheit bekam Risse, aber noch behielt sie sich unter Kontrolle. Auf einmal hatte ihre Ruhe nichts mehr mit Konzentration zu tun, nur mit Entsetzen.
    »Er ist ein Dieb.« Gräfin Violante trat an ihr vorbei ans Fenster und sah hinaus. »Wir haben nicht mehr viel Zeit, fürchte ich.« Sie wandte sich wieder um und blickte Saga fest in die Augen. »Unser Handel ist ganz einfach. Du kommst mit mir, und dein Bruder bleibt am Leben. Versuchst du zu fliehen oder zeigst dich auf andere Weise widerspenstig, sende ich noch in derselben Stunde einen Boten aus, der sein Todesurteil überbringt. Ich möchte, dass du verstehst, dass sein Schicksal allein in deiner Hand liegt, Saga. Du trägst jetzt die Verantwortung für ihn.«
    Saga schloss die Augen und fühlte den Boden unter sich schwanken. Sie ballte eine Faust, öffnete die Lider – und schlug Violante mitten ins Gesicht.
    Die Gräfin stolperte zurück, und beinahe wäre sie dem Kaminfeuer so nahe gekommen, dass ihr Mantel die Flammen berührt

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