Herrin der Lüge
Kettenschwertes klafften kaum zwei Handbreit.
Scharffenberg zog seine eigene Klinge, machte aber keine Anstalten, Faun zu erschlagen. Stattdessen bückte er sich und hob den halb verbrannten Vertrag auf. Besorgt, aber zugleich mit einem Anflug von Triumph entrollte er das Pergament. Das Feuer hatte weniger Zerstörung angerichtet, als Faun gehofft hatte. Gut zwei Drittel waren erhalten geblieben, der größte Schaden war am mittleren Rand entstanden. Die Siegel und Unterschriften im unteren Teil waren unversehrt, ebenso ein Großteil des Vertragstextes.
Faun hob den Kopf und sah am Hofkanzler vorbei zu Tiessa. Sie bewegte sich nicht, lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden zwischen den Fußenden der Betten.
Seine Hand kroch zum Griff des Kettenschwertes.
Scharffenberg rollte den Vertrag zusammen. Er hatte Tiessa und der Tür den Rücken zugewandt. Dann fiel sein Blick auf Faun, und er erinnerte sich an die blankgezogene Waffe in seiner Hand.
Fauns Finger berührten Zinders Schwert.
Der Hofkanzler richtete die Spitze seiner Klinge auf Fauns Brust. »Liegen lassen«, sagte er. »Sonst muss ich dich töten.« Aber Fauns Hand schloss sich bereits um den Griff. »Dummkopf«, sagte Scharffenberg, holte kopfschüttelnd aus – und wurde von hinten niedergestreckt, als Zinder ihm einen Kerzenhalter über den Schädel schlug. Faun rollte sich zur Seite. Die Spitze von Scharffenbergs Schwert bohrte sich neben seiner Schulter in den Holzboden. Der Hofkanzler sank nach vorn, genau auf ihn zu, prallte neben ihm auf und blieb reglos liegen.
»Was habe ich über das Kettenschwert gesagt?«, fragte Zinder mit erhobenem Zeigefinger.
Faun zog die Hand zurück.
Der Söldner lächelte. »Gut.« Hinter ihm stand die Kammertür weit offen. Er wandte sich um, stieg über die leblose Tiessa und drückte die Tür hastig zu.
»Was ist mit ihr?« Faun kroch auf allen vieren auf das Mädchen zu.
»Bewusstlos, würde ich sagen.« Zinder ging in die Hocke und berührte ihren Hals. »Keine Sorge. Sie wird wieder.«
Während Faun Tiessas Oberkörper auf seinen Schoß zog, trat der Söldner neben den leblosen Scharffenberg und zog ihm das Pergament aus den Fingern.
»Verbrenn es«, keuchte Faun.
Zinder zuckte die Achseln, seufzte leise – und hielt das Pergament in die Flamme der Öllampe.
Gemeinsam sahen sie zu, wie die Rolle verbrannte, erst zwischen Zinders Fingern, dann, als er sie nicht mehr halten konnte, am Boden, nicht weit von Scharffenbergs Gesicht entfernt.
Die Flammen loderten ein letztes Mal auf, ehe sie keine Nahrung mehr fanden und verloschen. Zurück blieb nur ein Häufchen grauer Asche.
Die Flucht
Zinder trug Tiessa im Arm wie ein Kind, während Faun, noch immer leicht benommen, mit Scharffenbergs Schwert in der Hand vorauseilte. Zinder hatte ihn fragend angesehen und auf die regungslose Tiessa gedeutet, nachdem er den Kanzler geknebelt und gefesselt hatte. Faun hatte genickt. Es war keine bewusste Entscheidung gewesen, sondern etwas, das aus seinem tiefsten Innersten zu kommen schien. Etwas, das er nicht beeinflussen konnte.
Ihre Flucht war einfacher, als sie gedacht hatten. Auf dem Weg zurück zur Kammer hatte Zinder diesen Teil des Gebäudes ausgekundschaftet und war nirgends auf Wachen gestoßen.
»Hier entlang!« Der Söldner deutete mit einem Nicken auf eine schmale Treppe, von der Faun vermutete, dass sie ins Erdgeschoss führte. Als sie jedoch die Stufen hinabliefen, endeten sie keineswegs ein Stockwerk tiefer, sondern setzten sich fort, bis sie einen Keller erreichten. Er war in den Fels des Berges gehauen; der Boden war uneben und sandig, die Wände zerfurcht.
»Was ist das hier?« Faun sah sich in der höhlenartigen Kammer um. Er trug in der Linken die Öllampe, in deren Flamme sie das Dokument verbrannt hatten. In ihrem Schein erkannte er auf der anderen Seite einen Rundbogen, hinter dem breitere Stufen nach oben führten. Rechts von ihnen erstreckte sich, jenseits eines weiteren Bogens, ein Gang, dessen Ende sich im Dunkeln verlor.
»Wir werden sehen«, sagte Zinder. »Was soll das heißen?«
Der Söldner lächelte und verlagerte Tiessas Gesicht in seinen Armen. »Weiter als bis hierher bin ich nicht gekommen.«
»Du führst uns in dieses Loch und hast keine Ahnung, wie wir wieder herauskommen?«
»Der Haupteingang des Rathauses wird bewacht. Willst du mit dem Mädchen an den Soldaten vorbeimarschieren? An der Leibgarde des Kaisers?«
»Und das hier sieht für dich aus wie ein besserer
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