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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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um dich abzuholen.«
    »Und wenn Tiessa nicht bei mir gewesen wäre?«
    »Wir hätten uns schon was einfallen lassen.«
    »Du wolltest ohne sie gehen!
    »Im Augenblick trage ich sie. Also hör auf, mit mir zu streiten!«
    Die Treppe führte eine beachtliche Strecke weit abwärts, ohne Biegung oder Kehre. Zuletzt erreichten sie eine zweite Tür mit ganz ähnlichen Beschlägen wie jene am oberen Ende des Fluchtwegs. Faun lehnte das Schwert an die Wand, stellte die Öllampe auf den Boden und nahm Zinder das Mädchen ab. Sie rührte sich wieder, und ihre Lippen bebten, als er sie an sich zog. Der Söldner ergriff das Schwert und hantierte am Schloss des Ausgangs.
    »Es wird alles gut«, flüsterte Faun in Tiessas Ohr. Er fühlte ihre Wärme an seiner Brust. Sanft küsste er ihre Stirn. Das ganze Reich wird einmal mehr in Blut und Feuer versinken, hörte er sie wieder sagen.
    Aber er konnte nicht ohne sie fliehen. Ganz gleich, was dagegensprach. Es ging nicht.
    Zinders Fluch holte ihn zurück in die Gegenwart. Zweimal, dreimal trat er gegen die Tür, doch sie hielt stand. Erst nach weiteren Versuchen gaben die Scharniere nach. Dort, wo Zinder bereits mit der Schwertklinge das Holz bearbeitet hatte, brach das Eisen aus dem Flügel. Die Tür kippte polternd nach außen – und schlitterte unter Getöse einen Abhang hinunter.
    »Heiland!«, fluchte Zinder. Stocksteif warteten sie ab, bis das Krachen und Scheppern des Türflügels in der Tiefe verklang. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe endlich wieder Stille herrschte.
    Der Ausgang befand sich inmitten einer steilen Schräge. Der Himmel war dunkelblau, die ersten Sterne flackerten. Tief unter ihnen brannten Lichter am Rande des Meeres. Die See erstreckte sich endlos von der zerklüfteten Kalksteinküste bis zum Horizont.
    »Wo sind wir hier?«, flüsterte Faun.
    Zinder sah sich um. »Auf jeden Fall nicht auf dem Rathaus.«
    Er streckte die Hand aus, um Tiessa wieder zu übernehmen aber Faun schüttelte den Kopf. »Ich trage sie.«
    »Wie du willst.«
    Der Söldner nahm die Öllampe vom Boden, packte das Schwert und lief voraus. Faun folgte ihm. Ein schmaler Weg führte im Zickzack zwischen den Felsen in die Tiefe. Einmal sah Faun zurück, die gesamte Flanke des Berges hinauf bis zu den Lichtern des Dorfes, das sich hoch über ihnen vom samtig blauen Abendhimmel abhob. Von hier aus ließ nichts darauf schließen, dass ihre Flucht bemerkt worden war. Trotzdem war es möglich, dass sie bereits durch das Innere des Berges verfolgt wurden. Der Kaiser würde seine Braut kein zweites Mal entkommen lassen. Und Faun war nicht einmal sicher, ob sie entkommen wollte. Womöglich war dies gar keine Befreiung, sondern tatsächlich eine Entführung.
    Sie bewegte sich wieder in seinen Armen. Ihre Lippen bebten und schienen Worte zu formen. Er verstand nicht, was sie sagen wollte. Vielleicht war es besser so. Er war nicht sicher, was er tun würde, falls sie von ihm verlangte, sie abzusetzen und zurückzulassen.
    Ungehindert erreichten sie den Fuß der Felsen. Zuletzt schlitterten sie einen Hang hinunter, auf dem dürres Gras aus verästelten Spalten wuchs. Baumkrüppel krallten sich an die Felsen, völlig entlaubt, die Stämme abgestorben.
    Der Hafen, von dem Zinder gesprochen hatte, entpuppte sich aus der Nähe als dürftige Ansammlung von Häusern und Lagerschuppen. Er gehörte zum Dorf auf dem Berg und war kaum weitläufiger als ein großes Gehöft. Die Kriegsschiffe des Kaisers ankerten ein Stück weiter draußen auf dem Meer, ein halbes Dutzend mächtige Galeeren, auf denen vereinzelte Lampen und Fackeln brannten. Zwischen diesen Kolossen waren die Silhouetten weiterer Schiffe zu sehen, kleiner und weniger eindrucksvoll. Eine Hand voll Ruderboote pendelte auf dem Wasser zwischen Land und Schiffen. Am Bug einer jeden Jolle stand aufgerichtet eine Gestalt und hielt schwankend eine Lampe am ausgestreckten Arm wie eine lebende Galionsfigur.
    Am Rand des ärmlichen Gebäudehaufens brannten Lagerfeuer, um die sich sitzende Gestalten scharten. Auch zwischen den Schuppen und Häusern waren Männer unterwegs, ausschließlich Soldaten des kaiserlichen Heeres. Nirgends waren Einheimische zu sehen. Wie schon oben im Dorf waren auch hier alle Bewohner vertrieben worden.
    Tiessa bewegte sich und versuchte, sich aus Fauns Umarmung zu lösen. Erneut murmelte sie etwas, das er nicht verstand, und presste mit der flachen Hand gegen seine Brust. Beinahe wäre er gestolpert und hätte sie mit sich zu

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