Herrin der Lüge
Boden gerissen.
»Weiter!«, kommandierte Zinder, als er sich zu den beiden umdrehte.
»Sie ist wach«, sagte Faun.
»Und viel zu benommen, um zu laufen. Ein Ruderboot erwartet uns am Rand des Hafens – das hoffe ich jedenfalls. So war’s abgesprochen.«
»Abgesprochen!« Faun keuchte. »Mit irgendwelchen Halsabschneidern, schätze ich.«
Eine Zornesfalte erschien auf Zinders Stirn. »Unglücklicherweise hatten alle Ehrenmänner Bedenken, zwei flüchtige Verbrecher an Bord zu nehmen. Wir können nur Gott danken, dass sie keine Ahnung haben, wen wir hier entführen wollen.«
Faun tat sein Bestes, mit dem Söldner Schritt zu halten, während die benommene Tiessa sich immer heftiger in seinen Armen regte. Er würde sie nicht mehr lange halten können. Zudem schien sie immer schwerer zu werden.
»Hier entlang«, rief jemand aus dem Dunkel zu ihrer Rechten. Zwischen ein paar Felsbrocken am Rande der Hafenschuppen war eine beleibte Gestalt erschienen.
Zinder gab Faun einen Wink. Geduckt rannte der Söldner zu dem Mann an den Felsen hinüber, der sich seinerseits umdrehte und Richtung Wasser davonlief.
»Was tun wir hier?«, murmelte Tiessa an Fauns Schulter.
»Du bist in Sicherheit.« Er hoffte, dass seine Stimme nicht zitterte.
»Schneller«, flüsterte Zinder über die Schulter, kaum hörbar um die Soldaten an den Lagerfeuern nicht aufzuschrecken.
Entgegen seinen Worten befürchtete Faun, dass jeden Augenblick ein Hornsignal von den Mauern des Bergdorfs die Soldaten warnen könnte. Wenn Scharffenberg erst Alarm schlug, würde es nur Augenblicke dauern, ehe sie das gesamte Hafenbecken abgeriegelt hätten.
Die Häuser blieben links von ihnen zurück. Vor ihnen öffnete sich die felsige Bucht. Wellen schlugen gegen Kalkgestein, das im schwachen Sternenlicht noch farbloser erschien. Faun kam es vor, als liefen sie durch eine bizarre Traumlandschaft, erfüllt von unwirklichen Formen und Gestalten.
Die sonderbarste Gestalt aber war zweifellos der kugelrunde Mann, der sie am Ruderboot erwartete.
»Katervater«, stellte Zinder ihn vor, ohne Faun dabei anzusehen. »Nicht wahr?«, fragte er in die Richtung des Mannes.
Der nickte, was aber kaum zu erkennen war, da sein Kopf beinahe halslos auf dem massigen Leib saß. »Katervater«, wiederholte er, »zu Euren Diensten. Reliquien aller Art. Heiligtümer aus aller Welt. Ihr sucht etwas, das von Gott berührt wurde? Sucht nicht weiter – Ihr findet es in meinem Laderaum.«
»Schön, schön«, gab Zinder gehetzt zurück und eilte an Fauns Seite, um die benommene Tiessa über den Bootsrand zu hieven. Vier Ruderer saßen auf den Bänken. Einer erbarmte sich und half ihnen, Tiessa auf den Boden der Jolle zu legen. Sie murmelte wieder etwas, aber diesmal wollte Faun gar nicht hinhören.
Wenn diese Hochzeit nicht stattfindet, wird es einen neuen Bürgerkrieg gehen.
Er verdrängte den Gedanken und folgte Zinder und dem fetten Mann ins Boot. Gleich darauf legte das Boot ab und glitt ohne Licht über die schwarzen Wellen auf eines der Schiffe weiter draußen zu. Im Dunkeln passierten sie zwei kaiserliche Galeeren. Der fette Reliquienhändler winkte freundlich zu einem Wachmann hinauf, der sich neugierig über die Reling beugte und mit einer Fackel aufs Wasser hinableuchtete. Wahrscheinlich reichte ihr Schein nicht weit genug, um Einzelheiten auszumachen.
»Katervater?«, rief der Soldat.
»Eben der.«
»Wer noch?«
»Männer aus meiner Mannschaft. Und Käufer.«
Der Wächter lachte rau. »Er wird euch übers Ohr hauen.«
Katervater fluchte in seine Richtung, behielt dabei aber seinen jovialen Ton bei. Der Soldat lachte noch lauter, winkte ab und verschwand hinter der Reling.
Wenig später kletterten sie an Bord einer kleinen Handelsgaleere. Sie war schlanker und sah wendiger aus, als Faun erwartet hatte. Zu Katervater hätte ein Kahn gepasst, der ebenso bauchig war wie er selbst; dass er stattdessen einem schnelleren Schiff den Vorzug gab, ließ darauf schließen, dass er bisweilen Hals über Kopf verschwinden musste.
Tiessa erklomm die Strickleiter aus eigener Kraft, doch sie sagte nichts. Wie eine Schlafwandlerin folgte sie Zinders Anweisungen. Der Söldnerführer sprach in einem ungewohnt sanften Tonfall mit ihr. Nur ab und zu blickte Tiessa sich nach Faun um, als wollte sie sich vergewissern, dass er noch da war.
Faun kletterte direkt hinter ihr, und als sie an Deck angekommen war, half er ihr, sich niederzulassen, den Rücken gegen eine Kiste gelehnt, die
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