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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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nicht das Gesicht Karmesins, das auf sie herabblickte, sondern Jorinde. Sie kniete neben ihr, eine Hand auf die Wölbung ihres Bauchs gelegt, in der anderen ein Tuch, mit dem sie Sagas Gesicht mit Wasser bestrich, das längst nicht mehr kühl war.
    »Was … tust du denn hier?«, kam es brüchig über Sagas aufgesprungene Lippen. »Du bist an Bord geblieben …«
    »Nicht jetzt«, sagte Jorinde. »Du musst ruhen.«
    Im selben Moment, da man ihr sagte, sie brauchte Ruhe, wehrte sich alles in ihr dagegen. »Was ist geschehen?«
    Jorindes Gesicht war sonnenverbrannt, sie musste schon eine ganze Weile hier sein. »Du hast Fieber. Du bist krank.«
    »Es … geht schon.« Und das tat es tatsächlich. Mit jemandem zu sprechen half ihr, sich aus ihrem Selbstmitleid und dem Sumpf aus Vorwürfen zu lösen. »Sind das hier die Ruinen? … Auf dem Berg?«
    Jorinde nickte. Saga konnte nicht viel erkennen, außer der Mauer gleich neben ihr, die nicht länger Schatten spendete, seit die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte. Der Rest der Welt schien von gleißender Helligkeit erfüllt, hier und da von Bewegungen, vorüberhuschenden Gestalten und Wortfetzen.
    »Sie lassen uns in Ruhe, so wie es aussieht«, sagte Jorinde. »Hier oben gibt es nichts zu holen.«
    »Aber warum bist du hier?«
    »Die Schiffe sind in ihrer Hand. Es ist passiert, kurz nachdem ihr fort wart. Jede konnte selbst entscheiden, ob sie sich den Meuterern anschließen oder hier zu euch herauf in die Ruine gehen wollte … Meuterer, das klingt so harmlos, oder?«
    »Du hast gesehen, was sie getan haben?«
    »Wir mussten durchs Dorf. Jedenfalls durch einen Teil davon.« Mehr sagte Jorinde nicht dazu, aber Saga sah den Schmerz in ihren Zügen. Jorindes Augen füllten sich mit Tränen, aber sie wischte sie hastig mit ihrer weißen, schmalen Hand fort.
    »Es tut mir leid«, flüsterte Saga.
    »Du kannst nichts dafür.«
    »Ich hätte sie aufhalten müssen.«
    »Niemand hätte das gekonnt. Berengaria hat es mit Gewalt versucht, aber am Ende musste auch sie aufgeben.«
    Aber ich bin die Magdalena, hätte Saga beinahe erwidert. Doch das stimmte nicht. Sie war keine Predigerin mehr, keine Prophetin.
    Die Lider fielen ihr wieder zu, aber sie blieb wach, spürte Jorindes Hand auf ihrer und hörte irgendwo in der Ferne aufgebrachte Stimmen. Noch ein Streit. Es schien viele davon zu geben, hier oben in den Trümmern des antiken Tempels. Jene, die sich hierher zurückgezogen hatten, schienen uneins zu sein. Kein Wunder – wahrscheinlich versuchte Violante noch immer, den anderen Befehle zu geben.
    Der Aufruhr des Lügengeistes wurde schwächer. Womöglich hatte sie sich an sein Wüten gewöhnt. Oder sich selbst etwas vorgegaukelt.
    »Jorinde?«, krächzte sie schläfrig.
    »Ich bin bei dir.«
    »Wie viele? … Hier, bei uns?«
    »Nicht mal zweihundert. Die meisten von denen, die nachts an Bord der Schiffe zurückgeblieben waren, haben sich am Morgen den Plünderern angeschlossen. Das Töten und Stehlen hatten die anderen für sie erledigt, und jetzt haben sie sich die Seite ausgesucht, die ihnen zumindest für ein paar Tage etwas zu essen bieten kann.«
    »Gibt es hier Vorräte?«
    »Sie lassen uns nicht zu den Schiffen, aber sie haben uns Essen heraufgeschickt. Einen Maultierkarren mit Fisch und Brot. Den Fisch haben die meisten von uns nicht angerührt, aber das Brot macht satt. Jedenfalls eine Weile lang. Karmesin hat dir Ziegenmilch eingeflößt. Hast du Hunger?«
    Saga konnte nicht unterscheiden, ob das Grollen in ihrem Magen vom Hunger oder vom Aufruhr des Lügengeists rührte. »Später«, hörte sie sich sagen, aber da verglühte ihr Bewusstsein schon wieder in der schmerzhaften Helligkeit.
    Mehrere Stimmen unterhielten sich jetzt über sie, ganz in der Nähe. Jorinde war dabei, und Karmesin. Dann noch jemand. Die Gräfin.
    Saga versuchte noch einmal die Augen zu öffnen. Verschwommen sah sie die drei Frauen neben sich stehen, heftig gestikulierend, debattierend. Warum stritten sie nun auch noch über sie? Gab es nichts anderes zu tun?
    Alles deine Schuld, hallte es in ihr nach.
    »Ein Priester«, flüsterte sie.
    »Was?« Karmesin fiel neben ihr auf die Knie. »Was hast du gesagt?«
    »Holt … einen Priester.«
    Wieder redeten die drei durcheinander, aber der Streit musste zu ihren Gunsten ausgegangen sein, denn bald darauf beugte sich ein Mann über sie, den sie nur vom Sehen kannte. Er mochte um die vierzig sein, mit strähnigem, verschwitztem Haar und einer

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