Herrin der Lüge
Ruinen.
»Es wird dunkel«, sagte sie.
»Bald«, raunte Karmesin ihr zu. »Sehr bald.«
Ihr Zustand besserte sich zusehends und viel schneller, als alle vermutet hatten. Sogar sie selbst befürchtete in ihren ersten wachen Momenten, dass sie noch immer Fieber hatte und nie wieder würde aufstehen können. Aber schon am Nachmittag des nächsten Tages – dem dritten seit dem Massaker an den Dorfbewohnern –, gelang es ihr, mit Karmesins und Jorindes Hilfe ein paar Schritte zu gehen. Zuletzt blieb sie aus eigener Kraft stehen, leicht schwankend, aber eher benommen als schwach. Es war, als hebe sich ein heftiger Schwindel von ihr, so plötzlich, wie er beim Versagen des Lügengeists über sie gekommen war. Beinahe meinte sie ihn sehen zu können wie ein hauchdünnes Seidentuch, das der Wind von ihren Schultern hob und über die Felsen, aufs Meer hinaustrug.
Sie verstand es nicht, aber das musste sie auch gar nicht. Das Ergebnis zählte. Ihr Körper war allein ihr eigener, zum ersten Mal so weit ihre Erinnerung zurückreichte.
Sie dankte Pater Luca, der geschwächter erschien als sie selbst. Er reagierte verunsichert auf ihre Nähe, selbst jetzt noch. Er und die anderen Priester hatten sie für eine Botschafterin Gottes gehalten, und nun hatte er ihr etwas ausgetrieben, das in seinen Augen nur vom Teufel stammen konnte.
Violante kam nur kurz zu Saga herüber und versicherte sich, dass es ihr gut ging. Es schien sich eher um eine Höflichkeit zu handeln – inszeniert für die Augen ihrer letzten Getreuen, eine leere, kalkulierte Geste – als um ehrliche Anteilnahme. Saga war nicht sicher, was genau Violante ihr übel nahm. Ihr Versagen? Ihren freiwilligen Verzicht auf den Lügengeist? Auch der Gräfin musste in den letzten Stunden klar geworden sein, dass die Magdalena mit dem Ding in Sagas Inneren gestorben war. Aber was kümmerte es sie noch? Es war vorbei. Endgültig vorbei.
Am Abend des dritten Tages in den Tempelruinen erschien eine Botin des Heeres, das sich rund um das Dorf und an den Hängen des Berges ausgebreitet hatte. Sie überbrachte das Angebot, dass jeder, der wolle, sich ihnen auch jetzt noch anschließen und gemeinsam mit der Flotte die Heimreise antreten könne.
Die Heimreise!
Ausgenommen waren die Kapitäne, wohl auf Beharren der Ruderknechte. Dass die Ruinen nicht von ihnen überrannt wurden, war ein Zeichen für die neue Vernunft, die allmählich dort unten Einzug hielt. Vernunft, geboren aus Scham.
Eine Hand voll Ruderer folgte der Botin den Berg hinab. Alle Übrigen blieben auf dem Gipfel zurück, unsicher, wie es weitergehen sollte.
»Was ist mit denen, die bereuen?«, fragte Pater Luca. Er stand mit Violante, Saga und einigen anderen zwischen den Tempelsäulen und blickte den Berghang hinab auf das dunkle Muster aus Punkten und Menschenansammlungen rund um die rauchenden Dorfruinen. Dahinter erstreckte sich das Meer ins Endlose. Am Horizont waren zwei weitere Inseln zu sehen, klein und karg wie diese hier. Die siebzehn Galeeren lagen draußen auf See vor Anker, mit eingeholten Segeln und flatternden Fahnen. »Wir müssen ihnen die Gelegenheit zur Beichte geben«, sagte der Pater.
»Wir müssen ihnen Gelegenheit geben zu verrecken«, sagte Berengaria.
»Ich fürchte, was das angeht, sind wir ihnen eine Nasenlänge voraus.« Karmesins Lächeln war selbst jetzt noch blendend schön, obgleich die letzten Wochen auch an ihr gezehrt hatten. Sie trug wie sie alle dieselben Sachen, die sie sich in der Nacht des Überfalls in aller Eile übergestreift hatte, kein Kleid, sondern eine weite Hose, die orientalischen Ursprungs sein mochte, dazu ein enges Wams und eine Weste. Ihr schwarzes Haar wehte offen im warmen Abendwind der Ägäis.
Saga lehnte an einer Säule. Jorinde stand bei ihr, die Hände überm Bauch verschränkt.
Betretenes Schweigen herrschte zwischen ihnen. Nicht nur Saga wusste, dass Karmesin Recht hatte. Ihre Vorräte gingen zur Neige. Spätestens morgen Mittag würden sich die Ersten das Angebot noch einmal durch den Kopf gehen lassen.
Vom Rand des Tempelplateaus aus hatten sie beobachtet, wie Trupps ausgesandt worden waren, um die verstreuten Ziegen und Schafe auf der Insel einzufangen. Während der beiden vergangenen Tage war am Fuß des Berges ohne Unterbrechung gebraten und gepökelt worden. Der Duft des gerösteten Fleischs wehte den Hang herauf und sorgte dafür, dass sich hier oben alle noch miserabler fühlten.
»Wenn sie jedes lebende Stück Vieh auf dieser Insel
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