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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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von Karmesin fortziehen, irgendwohin. Ihre Füße rannten wie von selbst, ihre Beine bewegten sich wie die einer Puppe an unsichtbaren Fäden.
    Der Lügengeist schrie und krampfte in Agonie. Missachtet, vergessen, machtlos. Saga übergab sich im Laufen, aber Karmesin zerrte sie nur weiter bergauf, durch Gassen, über Treppen, immer höher und höher, dann durch offenes Gelände, Felsspalten, Geröllhänge.
    »Vielleicht dort oben …«, keuchte jemand.
    »Die Ruinen …«
    »Verschanzen, irgendwie …«
    Saga hörte es und war doch blind und taub für ihre Umgebung. Die anderen hatten den Glauben an sie verloren, aber am schlimmsten war, dass sie ihr damit den Glauben an sich selbst genommen hatten.
    Sie war jetzt wieder nur noch sie selbst. Nur noch Saga.
    Und mit dieser Erkenntnis stolperte sie durch zerbrochene Säulen, über Trümmer, hinter halb zerfallene Mauern und Zinnen.
    Dort brach sie zusammen, kraftlos und ausgelaugt, und dann weinte sie lange und lautlos in Karmesins warmem Schoß.

Die Besessene
     
    Immer wenn sie erwachte, war Karmesin bei ihr, tupfte mit einem feuchten Tuch über ihre Stirn, redete sachte auf sie ein oder sang leise Lieder in der Sprache ihrer Heimat.
    Vielleicht waren es Tage, vielleicht nur Stunden. In ihr war ein Toben und Zerren. Etwas schien ihre Gedanken und Empfindungen durcheinander zu rühren, sodass mal das eine, dann das andere Gefühl an die Oberfläche kochte. Ihr Gesicht tat wieder weh, sogar im Schlaf, und sie träumte, dass jemand ihr ein Brandzeichen in die Wange sengte und dass die Hitze von dort durch alle Teile ihres Körpers raste, ihren Leib entflammte, ihre Seele verzehrte.
    Über ihr war tiefstes Blau, die klare, endlose Weite der Ägäis. Sie lag auf einem dünnen Bett aus Stoff, Karmesins weitem Mantel, aber darunter war harter Stein. Saga war immer schlank gewesen, aber die Entbehrungen der vergangenen Wochen auf See hatten sie abmagern lassen. Sie spürte, wie ihre Knochen auf dem Fels auflagen, und erst als sie klarer im Kopf wurde – langsam, aber doch allmählich –, begriff sie, dass das der Grund war, weshalb Karmesin so streng darauf achtete, dass sie nie zu lange auf einer Seite oder dem Rücken lag.
    Als die Sonne höher stieg, rückte der Rand des Schattens, in den man sie gebettet hatte, immer schneller auf sie zu. Bald schlug die unbarmherzige Hitze der Inselwelt über ihr zusammen. In Halbschlaf und Delirium hörte sie heftige Diskussionen zwischen Karmesin und Violante, vielleicht auch noch anderen, Berengaria, womöglich, aber sie verstand nicht, worüber die Frauen sprachen. Ihr Name fiel häufig, und es war von Krankheit die Rede, von Fieber und Auszehrung.
    Hatte sie denn Fieber? Sie wusste es nicht. Die Hitze war grauenvoll, die Luft schien wie kochendes Wasser in ihren Brustkorb zu fließen, und das Sonnenlicht glühte durch ihre Lider, aber all das schien von außen zu kommen, während in ihrem Inneren ein ganz anderer Kampf ausgefochten wurde.
    Der Lügengeist tobte. Noch immer. Es fühlte sich an, als würde sie von innen ausgepeitscht, als schlüge eine Geißel gegen ihr Rückgrat, ihre Bauchdecke, die Höhlung ihrer Brust. Sie stellte sich den Lügengeist als verschwommenen Schatten vor, der in rasendem Zorn einen Ausweg aus ihrem nutzlos gewordenen Leib suchte, um in einen anderen zu fahren.
    Hatte sie versagt? War es wirklich ihre Schuld, was im Dorf geschehen war? Die Bilder waren zu wirr, überlagerten sich, rasten an ihrem inneren Auge vorüber. Sie wusste nicht mehr, was tatsächlich geschehen war und was sich in ihrer Einbildung zu einem Zerrbild der Wirklichkeit aufblähte. Überall war Blut, waren Tote, wurde Vieh geschlachtet und wurden Häuser in Brand gesteckt. Nichts ergab einen Sinn, aber das taten Plünderung, Brandschatzung und willkürliches Morden niemals. Sie hatte es im Bürgerkrieg erlebt, und das hier war nichts anderes. Vielleicht war alles wahr. Vielleicht hatten die Mädchen und Söldnerinnen das Dorf tatsächlich bis auf die Grundmauern niedergerissen, hatten jeden getötet in einer Raserei, zu der sie sich gegenseitig angestachelt hatten.
    Einer Raserei, die sich kaum von jener des Lügengeists unterschied.
    Nicht ich habe versagt, schrie sie stumm in ihren Gedanken, sondern du! Dir haben sie nicht geglaubt!
    Er gab keine Antwort. Vielleicht war alles immer nur Einbildung gewesen, seine Präsenz, seine Macht. Ihre Macht.
    Der Schmerz genauso wie die Hitze.
    Sie schlug die Augen auf, und diesmal war es

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