Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
von ihnen kannte sich im Dorf aus, und so folgten sie dem Lärm und den höchsten Flammen die Treppengassen hinauf, bis sie eine Art Versammlungsplatz erreichten. Er war zu einer Seite hin offen und gestattete einen weiten Blick über die Dächer der tiefer gelegenen Häuser und das Ufer. Rauch, Gestank und Hitzeflimmern machten es schwierig, dort unten etwas zu erkennen. Trotzdem sah Saga, dass viele Ruderboote bereits wieder in Richtung der Schiffe ablegten; vermutlich wollten sich diejenigen, die darin saßen, unauffällig unter die Zurückgebliebenen mischen.
    »Meine Kapitäne werden schon wissen, was sie zu tun haben«, knurrte Angelotti. »Auf Meuterei steht der Tod.«
    Aber niemand hatte eine Ahnung, wie es im Augenblick auf den übrigen Schiffen der Flotte aussah. Und ob überhaupt noch eine Flotte da sein würde, wenn sie zur Santa Magdalena zurückkehrten.
    Falls sie zurückkehrten.
    Der Dorfplatz war übersät mit Kreuzfahrerinnen, die sich an den Vorräten der Hirten und Fischer gütlich taten. Viele zerrten am selben Stück, und es gab Keilereien, sogar Kämpfe auf Leben und Tod zwischen Einzelnen, aber auch kleinen Gruppen. Besatzungen unterschiedlicher Schiffe machten sich gegenseitig die Beute streitig. Berengarias Kriegrinnen hätten nach all den Wochen der Waffenübungen genug Autorität besitzen sollen, um die Marodeurinnen in die Schranken zu weisen. Stattdessen plünderten sie wie alle anderen, und nicht wenigen war anzusehen, dass sie Blut vergossen hatten.
    »Sie bringen sie um«, sagte Karmesin erschüttert, als aus einer armseligen Behausung eine alte Frau mit einem Neugeborenen im Arm rannte und von zwei Kreuzfahrerinnen verfolgt wurde. Die Alte hatte keine Nahrung dabei, nichts das zu plündern lohnte. Nur das schreiende Kind.
    Saga erinnerte sich an die Gerüchte über den ersten Kreuzzug, über ausgehungerte Soldaten und Prediger, die wie Wölfe über die Dörfer Anatoliens hergefallen waren und auch vor Menschenfleisch nicht Halt gemacht hatten. Zum ersten Mal glaubte Saga, dass die Geschichten einen wahren Kern haben könnten.
    Berengaria und zwei Kriegerinnen ihrer Leibgarde wollten der Frau mit dem Kind zu Hilfe eilen, doch da starb die Alte schon im Blutrausch der beiden Wahnsinnigen. Berengaria stieß einen grauenvollen Schrei aus und schlug der einen Mörderin den Kopf von den Schultern. Die andere starb unter den Klingen der Gardistinnen.
    »Halt!«, brüllte Saga, erklomm einen umgestürzten Holzkarren in der Mitte des Platzes und hob beide Arme. »Hört auf damit! Ihr alle!«
    Karmesin lief auf sie zu. »Du kannst sie nicht aufhalten! Du bringst dich nur selbst in Gefahr.«
    Saga achtete nicht auf sie. »Ich beschwöre euch – hört auf!«
    Ein paar Frauen auf dem Platz hoben die Köpfe und sahen herüber, einige mit ebenso abwesenden Mienen wie das apathische Mädchen am Strand.
    Wie hat das so schnell gehen können?, fragte sich Saga verzweifelt. Als wäre der Irrsinn wie ein Fieber über die Flotte hereingebrochen. Aber warum hatte es dann sie selbst, Violante und die anderen verschont? Tief im Inneren kannte sie die Antwort: Weil wir nicht über Hunger und Durst nachdenken mussten, über stickige, voll gepferchte Massenquartiere in finsteren Schiffsbäuchen, wo junge Mädchen in ihrem eigenen Dreck dahinvegetierten und der Glaube an die Magdalena und ihre Botschaft mit jedem Tag stärker schwand.
    Ich hätte zu ihnen gehen müssen, dachte sie erschüttert. Stattdessen habe ich mich versteckt. Vor den anderen. Vor mir selbst. Es war meine Pflicht!
    Nein, du bist entführt worden. Irregeleitet.
    Ach ja? Und wann hatte es begonnen, ihr zu gefallen? Sie hatte etwas in der Situation, etwas in sich selbst entdeckt, von dem sie vorher nichts gewusst hatte. Sie hatte es genossen, manchmal zumindest – und damit hatte sie, ob sie wollte oder nicht, Verantwortung übernommen. Dieselbe Verantwortung, die auch an Violantes Gewissen nagte.
    Jetzt tauchte sie tief in ihr Inneres, schlug Saiten an, die sie beinahe vergessen hatte, suchte nach der Präsenz des anderen in ihrem Herzen, ihrer Seele, in ihrem Verstand.
    Lügengeist, schrie sie stumm, wo bist du, wenn ich dich brauche?
    Und dann war er da, wand sich wie ein Aal in ihrem Brustkorb, ihrer Kehle, auf ihrer Zunge. Er zehrte von der Luft, die sie atmete, verarbeitete sie zu Silben, zu Wörtern. Zu Lügen.
    »Ich kann euch retten!«, rief sie hinaus in die brennende Nacht, ungewiss, wer ihr überhaupt zuhörte. »Ich hin die

Weitere Kostenlose Bücher