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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Magdalena! Ich trage den Willen des Herrn in mir! Und ich sage euch – lasst ab von diesem Wahnsinn. Gott wird euch satt machen mit seinem Wohlwollen und seiner Liebe. Er wird euren Durst löschen und euch den Hunger nehmen. Gott ist auf eurer Seite, und er lässt nicht zu, dass euch Böses widerfährt. « Und dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus, getragen von der Stimme des Lügengeistes: darüber, wie Christus am Kreuz gelitten hatte und doch nicht verzagt war. Wie er all den Schmerz, den Hohn und das langsame Sterben auf sich genommen hatte, und wie Gott nun das Gleiche auch von ihnen verlangte, bis sie schließlich vor den Toren Jerusalems stehen und die Feinde der Christenheit im Handstreich niederwerfen würden.
    Der Schmerz beim Sprechen zwang sie fast in die Knie. Sie hatte den Lügengeist seit Wochen nicht mehr heraufbeschworen, und zu der entsetzlichen Übelkeit gesellte sich nun auch noch eine Pein, die sich wie ein Dorn in ihre Brust grub und ihr fast die Kraft zum Sprechen nahm. War er das? War das seine Strafe dafür, dass sie ihn bezwungen und zur Untätigkeit verdammt hatte? Rächte er sich jetzt an ihr, während er zugleich keine andere Wahl hatte, als ihrem Willen zu dienen, zerrissen zwischen Zorn über ihren Verrat, der Ekstase neuer Lügen und der Erkenntnis, dass sie ohne ihn nicht sein konnte. Sie brauchte ihn. Sie verzehrte sich nach seiner Lügenmacht.
    Er wusste es. Er schmeckte es in ihr. Er hörte ihre geheimsten Gedanken, kannte ihre Sehnsüchte und dieses fremde und doch so vertraute Verlangen, mehr zu sein als Saga, das Gauklermädchen, mehr sogar als die Magdalena. Eine Anführerin, eine Herrscherin. Gott selbst.
    War es wirklich das, was sie wollte? Gottgleiche Macht?
    Er versucht mich. Er täuscht und belügt mich. Sogar mich!
    Aber jenseits der Schmerzen und dem zwanghaften Drang, sich zu erbrechen, war da etwas in ihr, das Gefallen an dieser Darbietung fand, dem ultimativen Gaukelspiel, das sie zur Herrin über Leben und Tod machte, sie aus einem Ozean von Ängsten und Bedeutungslosigkeit aufsteigen ließ wie einen Raubfisch auf dem Weg zur Oberfläche, mit aufgerissenem Schlund, der alles in seinem Weg verschlingt.
    Und während ihr das durch den Kopf ging, redete sie und redete. Sprach mit der Stimme des Lügengeists, die in ihren Ohren klang wie hexenhaftes Kreischen und Krächzen und Röcheln, für alle anderen aber wie die Magdalena, die Gottgesandte.
    »Saga.«
    Jemand nannte sie beim Namen. Kein Ruf, nur ein sanftes Raunen nah an ihrem Ohr. Eine Hand zog an ihrem Ärmel. Wie ein Schleier hob sich die Lügenmacht von ihren Sinnen, und obgleich sie noch immer Worte und Sätze formte, sie ausspie wie etwas, das sie loswerden musste, erkannte sie, wer da neben ihr auf dem Karren stand.
    Karmesin sah sie ernst und traurig an und zugleich mit eiserner Unnachgiebigkeit.
    »Hör auf damit«, sagte sie sachte. »Sie hören nicht auf dich. Sie glauben dir nicht mehr.«
    Sie spürte sich selbst noch weitere Sätze sprechen, ganz ähnliche wie zu Beginn ihrer Rede, und da erst wurde ihr bewusst dass sie immer wieder dasselbe sagte, immer wieder von vorn begann wie eine Besessene.
    Und war sie das nicht? Eine Besessene?
    Sie glauben dir nicht mehr.
    Karmesins Worte sickerten ganz allmählich in ihren Verstand, aber es fiel ihr schwer, sie zu entschlüsseln, ihre ganze Tragweite zu begreifen. Endlich, nach einer Ewigkeit, erkannte sie, dass die Konkubine es lediglich falsch ausgedrückt hatte.
    Sie wollen mir nicht mehr glauben! Und da begriff sie, dass es vorbei war.
    Ihre Versuche, die anderen aufzuhalten. Dieser ganze Kreuzzug. Dies war das Ende. Sie wollen nicht mehr glauben.
    Der Lügengeist hatte keine Macht mehr über sie.
    »Saga, komm da runter.« Karmesin ergriff ihre Hand und zog sie von ihrem Predigerpodest, umnebelt von stinkendem Rauch, von Schreien, von Hass auf Gott und sich selbst und die ganze Welt.
    Sie trat wie betäubt zu Boden, geführt von Karmesin wie ein kleines Kind, beinahe willenlos, gefangen in ihrem eigenen Unglauben darüber, dass es vorüber war. Unausweichlich, unabänderlich.
    Um sie herum klirrten Schwerter. Sie wunderte sich kurz darüber, wie über so vieles, sah Funken von Eisen sprühen, hörte gehetzte Schreie, roch Blut, zerfetztes Fleisch im Staub des Dorfplatzes.
    »… Weg abgeschnitten …«, drangen verstümmelte Wortfetzen an ihr Ohr. »… nicht mehr zurück … die Flotte … keine Chance, wieder zum Wasser …«
    Sie ließ sich

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