Herrin der Lüge
Schwellung unter dem linken Auge. Er war geschlagen worden, wahrscheinlich als er sich den Plünderern und Mördern entgegengestellt hatte.
»Seid Ihr ein Geistlicher?«, wisperte sie schwach.
»Ich bin Pater Luca.«
»Ich will …«, begann sie, musste aber mehrfach ansetzen, bevor sie den ganzen Satz hervorbrachte. »Ich will einen Exorzismus. Treibt mir den Teufel aus, Pater.«
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Violante es zulassen würde, aber schließlich wurde ihr Wunsch erfüllt. Vielleicht glaubten manche, dass sie im Sterben läge, und hatten Respekt vor ihrem letzten Willen. Ob die Gräfin zu ihnen gehörte, erfuhr Saga nicht.
Auch fehlte ihr die Kraft, um sich die Streitereien mit Karmesin auszumalen, die alldem zweifellos vorausgegangen waren.
Was immer die anderen auch befürchten mochten, Saga starb nicht. Sie fühlte sich dem Tod nicht einmal nahe. In ihr war Leben. Ein Leben zu viel.
Sie musste den Lügengeist loswerden, ganz gleich, was danach geschah. Dies war weder der richtige Ort noch die beste Zeit dafür, aber es war die einzige Möglichkeit, das spürte sie genau. Es musste jetzt geschehen.
Der Pater traf seine Vorbereitungen, aber sie hörte es eher, als dass sie es sah. Er raschelte und hantierte an ihrer Seite, weihte Wasser, das aus dem Dorf oder aus einem Brunnen in den Ruinen stammte, diskutierte mit Violante und verwies die Gräfin schließlich mit erstaunlicher Vehemenz des Krankenlagers. Tatsächlich zog Violante sich zurück, gewiss nicht weit, aber für einige Stunden bekam Saga sie nicht mehr zu sehen. Womöglich hatte es sie verstört, dass eben jene Macht, die sie beide als göttlich ausgegeben hatten, nun ein Werkzeug des Teufels sein sollte. Dabei war Saga keineswegs sicher, was der Lügengeist war, woher er stammte oder warum er sich gerade sie als Trägerin ausgesucht hatte. Fest stand nur, sie wollte ihn nicht mehr in sich haben.
So gefangen war sie in sich selbst, ihren Ängsten und Hoffnungen und wirren Albträumen, dass sie erst mit Verspätung bemerkte, dass der Pater bereits begonnen hatte. Er las auf Latein aus der Bibel, während Karmesin ihr erneut mit feuchten Tüchern zu Leibe rückte und irgendwer – nein, nicht irgendwer: Berengaria – ihre Handgelenke auf den Boden presste, als könnte sie jeden Augenblick aufspringen und um sich schlagen. Sekundenlang überkam sie entsetzliche Panik, aber dann versank sie wieder in dem schwarzen Ozean in ihrem Inneren, stürzte durch Finsternis, während der monströse Umriss des Lügengeistes – echt oder eingebildet – sie umkreiste, zunehmend schneller und aufgeregter. Er hatte damit aufgehört, sie zu quälen, versuchte es nun mit Schmeichelei und Einflüsterungen, schließlich mit Drohungen. Sie hörte nicht auf ihn, wunderte sich nur, dass er mit ihrer eigenen Stimme zu ihr sprach, während von außen die Worte des Paters um sie waren und sie emporzuheben schienen, hinauf aus der Dunkelheit, wieder dem Licht entgegen, der Sonne der Ägäis und ihrem hochgewölbten Himmelsblau.
Sie verlor das Bewusstsein, verfing sich in einem Geflecht aus neuerlichen Träumen von endlosen Stürzen, und als sie unvermittelt den Mund aufriss und schrie, immer weiter schrie, da war es, als drohte ihr Körper zu zerplatzen, so als wäre da etwas in ihr, das mit einem Mal zu groß für das Gefängnis ihres Leibes geworden war und nach außen drängte, in alle Richtungen zugleich.
Später erzählten die anderen ihr, dass sie sich aufgebäumt hatte und dass keine unter ihnen gewesen war, die nicht geglaubt hatte, dass Sagas letzte Stunde gekommen sei. Sie hatte gekreischt mit einer Stimme, die nicht mehr ihre eigene zu sein schien; sie hatte geweint und gefleht; sie hatte den Pater verflucht und bespuckt, hatte Violante verdammt und sogar Karmesin angeschrien und das Ungeborene in Jorindes Bauch zur Hölle gewünscht.
Dann war es vorbei, und das mochte der Augenblick gewesen sein, in dem ihr Bewusstsein zurückgekehrt war und der Lügengeist seine Macht verloren hatte. Sie horchte in ihr Innerstes, aber sie fand keine Spur von ihm.
Ein paar Herzschläge lang überkam sie ein Gefühl entsetzlicher Einsamkeit, so sinnlos wie alles, das gerade um sie und mit ihr geschah. Einsamkeit – und Trauer? Etwa um ihn?
»Es ist gut«, flüsterte Karmesin ihr ins Ohr. »Du hast es geschafft. Alles wird wieder gut.«
Saga versuchte zu lächeln, geradewegs in die sinkende Sonne hinter einem Gitter aus Säulen auf der anderen Seite der
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