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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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verarbeitet haben, werden sie in See stechen«, stellte Karmesin fest. »Wie lange kann das noch dauern?«
    Berengaria hob die Schultern. »Viel kann nicht übrig sein. Die meisten Trupps sind von ihren Streifzügen zurückgekehrt. Wenn sie die Nacht hindurch schlachten und braten, könnten sie morgen Nachmittag bereit zum Aufbruch sein.«
    »Sie werden uns zurücklassen«, sagte Jorinde.
    »Sicher.« Saga nickte langsam. »Und wir sollten uns langsam Gedanken darüber machen, ob wir das wirklich wollen.«
    Sie holte tief Luft und löste sich von der Säule. Hinter ihr entbrannte ein wütender Streit. Saga zögerte kurz, doch dann ging sie mit schnellen Schritten bis zum Rand des Plateaus. Sie hatte nicht vor, sich zwischen Violante, Berengaria und Angelotti aufreiben zu lassen. Stattdessen wollte sie einen Rundgang durch die Tempelruinen unternehmen, um sich selbst ein Bild der Lage zu verschaffen. Jorinde blickte ihr erst nach, dann folgte sie Saga. Die Übrigen blieben zurück.
    Der Tempel – oder besser: die Festungsruine, die irgendwann einmal ein Tempel gewesen war, ehe man sie zu einer burgähnlichen Anlage ausgebaut hatte – saß auf dem eigentlichen Gipfel des Berges. Gleich daneben gab es noch eine zweite Erhebung, die nur über eine breite Steinbrücke zu erreichen war. Von dort aus führte der Weg ins Dorf und zum Meer hinab. Das Plateau selbst war rundherum von steilen Felswänden umgeben, einige vor langer Zeit künstlich geschaffen, sodass die Brücke den einzigen Zugang zum Tempelgelände darstellte. Sie führte über eine tiefe Kluft, die den zweifachen Berggipfel wie eine Schwertkerbe teilte. Fünfzehn Mannslängen, schätzte Saga, als sie vom Rand der Brücke in die Tiefe blickte. Sogleich kehrte ihr Schwindel zurück, und sie bewegte sich rasch ein Stück nach hinten. Die Brücke selbst war nicht länger als dreißig Schritt, dann endete sie auf der zweiten Felskuppe. Ihr Geländer war hüfthoch und aus massivem Stein gemauert. Wind und Sand hatten alle Verzierungen fast vollständig abgeschmirgelt. Nur wenn man mit den Fingern über die Oberfläche strich, konnte man die Reste von Linien und Rundungen ertasten.
    Das Plateau wurde von den Säulen des alten Tempels gekrönt. Mehr als die Hälfte waren vollständig erhalten geblieben, die übrigen ragten als steinerne Stümpfe über dem Abgrund empor. Der Tempel befand sich am Nordrand des Plateaus, die Brücke wies nach Westen. Die übrige Fläche war von halb zerfallenen Mauern bedeckt, die eher Ähnlichkeit mit den Überresten eines Labyrinths als mit den Ruinen einer Festung hatten; die meisten waren mehr als mannshoch, sodass sich ein Großteil der zweihundert Flüchtlinge dazwischen verlor. Vom Zugang des Geländes aus, wo Saga und Jorinde jetzt standen, ließen sich kaum mehr als dreißig oder vierzig Menschen zählen, alle anderen mussten im Schatten zwischen den Mauern sitzen. Selbst wenn sich das gesamte Heer und die Schiffsmannschaften hier oben befunden hätten, wären die meisten unsichtbar gewesen. Die Anlage bot genug Platz für die Bevölkerung einer Stadt.
    Rund um das Plateau, auch dort, wo sich der Tempel befand, hatte einst ein gemauerter Wall mit Wehrgang und Zinnen gestanden, aber davon waren nur Reste erhalten geblieben. Nahe der Säulen war das Mauerwerk fast vollständig verschwunden, so als hätte ein antiker Griechengott sein Heiligtum von allen späteren Verunglimpfungen der Festungsbauer bereinigen wollen. Im Süden des Zwillingsgipfels fiel der Berg schroff in die Tiefe ab. An seinem Fuß erstreckte sich ein Tal, das bei Tageslicht idyllisch wirkte; jetzt aber, in der anbrechenden Dunkelheit, sahen die Olivenbäume, die dort in großer Zahl wuchsen, wie gebuckelte Trolle aus, die nur daraufwarteten, den Gipfel zu stürmen. Verkrüppelte Stämme, knorrig und gebeugt, breiteten ihr Astwerk über felsigen Boden und spendeten nur Eidechsen Schatten.
    »Sieht aus, als ließe sich das Plateau gut verteidigen«, stellte Jorinde fest.
    »Warum sollten sie uns angreifen? Sie können uns einfach zurücklassen. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit werden wir hier auf der Insel verrotten. Die Brücke lässt sich nur mit Masse bezwingen. Weshalb sollten sie all diese Menschen hier heraufbringen?«
    »Wenn wir wenigstens genug Vorräte herbeischaffen könnten …«
    »Die Chance hatten wir vor drei Nächten«, sagte Saga. »Da haben wir auf Vorräte verzichtet, nicht wahr?«
    »Aber jetzt sind es nicht mehr die Vorräte armer

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