Herrin der Lüge
Inselbauern. Jetzt gehören sie dem Heer. Das macht einen Unterschied, finde ich.«
»Tut es das?« Saga senkte die Stimme. »Ich bin da nicht so sicher.«
Jorinde verzog einen Mundwinkel, was bei ihr ungewohnt eitel aussah. »Morgen werden wir Hunger haben.«
Saga schwieg. Der morgige Tag würde in der Tat eine Entscheidung bringen, auch ohne ihr Zutun. Keiner der zweihundert, die sich auf den Gipfel zurückgezogen hatten, konnte darauf irgendeinen Einfluss nehmen. Wenn der Hunger kam, würde sich alles andere von selbst ergeben.
Sie erwachten mit knurrenden Mägen und ohne einen brauchbaren Plan.
Berengaria war inzwischen entschlossen, mit einem Trupp von Kriegerinnen den Ausfall ins Lager zu wagen, doch als sie gerade ihre Schar zusammenstellte, schlugen die Wächterinnen auf der Brücke Alarm.
Es war eine weitere Botin, die auf dem Felsbuckel am Ende der Brücke auftauchte. Ihr Gefolge aus drei bewaffneten Frauen blieb in einigem Abstand zurück. Ganz allein betrat sie die Brücke, blieb aber nach wenigen Schritten stehen. Etwas Gehetztes lag in ihren Zügen, und sie sprach mit einer Atemlosigkeit, die nicht allein von den Anstrengungen des Aufstiegs herrührte.
»Wie ich sehe, bringst du uns keine neuen Vorräte«, sagte Violante, die einmal mehr die Rolle der Wortführerin übernahm.
»Nein, Vorräte bringe ich nicht«, erwiderte die Botin. Sie war den ganzen Weg zu Fuß gegangen. Wahrscheinlich hatte man sogar alle Maultiere der Insel geschlachtet. »Nur ein Angebot.«
»Wir haben schon euer erstes abgelehnt.«
»Da wart ihr satt.« Im Lager der Marodeure wusste man den Zustand der Flüchtlinge auf dem Gipfel offenbar sehr genau einzuschätzen. »Jetzt aber macht euch der Hunger gewiss mehr zu schaffen als euer schlechtes Gewissen wegen ein paar niedergebrannten Häusern.«
Ein paar niedergebrannten Häusern, dachte Saga, und ein paar hundert ermordeten Menschen. Aber sie sagte nichts, sondern hörte weiter zu. Es verblüffte sie, dass die Meuterer noch immer darum warben, sie zurück zur Flotte zu holen.
Berengarias Hand lag am Schwert. Saga hoffte nur, dass die Söldnerin sich beherrschte und die Botin nicht gleich hier auf der Brücke erschlug. Die Frau hatte einst zu Berengarias eigenem Trupp gehört, was ihren Verrat in den Augen der Söldnerführerin noch schwerwiegender machen musste.
»Was also wollt ihr?«, fragte Violante.
»Führung«, entgegnete die Botin.
Blicke wurden gewechselt, Augen blinzelten argwöhnisch. Saga traute ihren Ohren nicht.
»Ihr seid achttausend Menschen da unten, und ihr kommt zu uns, weil ihr Anführer braucht?« Violante schnaubte erbost. »Es ist eine Beleidigung, dass ihr glaubt, wir könnten in eine so lächerliche Falle tappen.«
»Keine Falle«, sagte die Botin kopfschüttelnd. »Bestimmte … Umstände machen es nötig, dass wir zwei Dinge brauchen. Eine Heerführerin« – dabei blickte sie zu Berengaria, die sich an ihrer Wut fast verschluckte, dann zu Violante, schließlich auf alle anderen – »und einen sicheren Ort, um uns zurückzuziehen. Einen Ort wie diese Festung hier.«
Schweigen senkte sich über die Brücke. Die Botin und Violante standen sich mit ein paar Schritt Abstand gegenüber. Berengaria, Karmesin und Saga warteten nahe bei. Auch Angelotti lehnte am gemauerten Geländer, hatte die Arme verschränkt und schwitzte in der Mittagshitze noch stärker als alle anderen. Die übrigen zweihundert Flüchtlinge drängten sich am Zugang zum Tempelgelände.
»Ihr wollt die Festung?«, fragte Violante, als könnte sie nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. Sie hob das Kinn, und nun war sie wieder ganz die Herrin von Burg Lerch.
Die Frau warf einen Blick über das Geländer den Berghang hinab. Von hier aus war nur ein Teil des weit gestreuten Lagers zu erkennen. Rauch stieg von unzähligen Stellen auf. Bis heute Nacht hatte man, wenn der Wind günstig stand, die Schreie der Tiere hören können. Jetzt aber waren sie alle verstummt. Keines war mehr übrig.
»Wir werden kämpfen müssen«, sagte die Botin. Als Violante bereits zu sprechen ansetzte, hob die Gesandte hastig die Hand. »Nicht gegeneinander! Eine Piratenflotte folgt uns, seit wir die Adria hinter uns gelassen haben. Es gab Spione unter den Ruderknechten. Eine Hand voll, bislang. Wir haben sie am Dorfrand aufgeknüpft. Aber vorher haben sie uns alles verraten … Wir hoffen jedenfalls, dass es alles war.«
Saga schaute suchend auf die See hinaus. Ihr Blick folgte der Linie
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