Herrin der Lüge
sicher.«
Das Gesicht des Grafen war eine verwüstete Narbenmaske. Schwer zu sagen, was zuerst da gewesen war: der tiefe Schnitt, der seine Züge von der linken Schläfe bis zum rechten Kieferknochen gespalten hatte und unter einem Wulst aus wildem Fleisch verheilt war; die zahllosen kleineren Narben, die wie Verbrennungen aussahen; oder die verwachsenen Schwellungen rund um die Augen und unter seiner Nase. Nur sein Mund war unversehrt geblieben, der Schwertstreich quer durchs Gesicht hatte ihn um Haaresbreite verfehlt.
»Violante«, sagte er bedauernd, »warum bist du nur hergekommen.« Es war keine Frage, eher ein verzweifeltes Seufzen.
Sie sah ihn an, ohne Antwort zu geben. Für endlose Augenblicke schien es, als hätte sie die Sprache verloren. Dann begann es ganz allmählich unter ihren Zügen zu arbeiten, ein Zucken und Ziehen, als kämpften alle nur denkbaren Regungen gegeneinander an, während sie sich standhaft bemühte, keiner den Vorrang zu lassen. Nur ja keine Schwäche zeigen.
Ganz die alte Violante, selbst jetzt noch.
»Du weißt, weshalb ich hier bin«, sagte sie schließlich. »Wo ist er?«
Er?, dachte Saga.
Ein Raunen ging durch den Kreis der Kranken, unter die sich jetzt auch ein paar Frauen gemischt hatten, Einheimische, die von Gahmurets Leuten verschleppt worden waren und nun unter denselben furchtbaren Verstümmelungen und Verwachsungen litten wie ihre Peiniger. Niemand schritt ein, als sich einige von ihnen in die vorderste Reihe drängten. Die Krankheit hatte sie alle zu Gleichberechtigten gemacht.
Karmesins Hand ballte sich um den Griff ihres Dolches. Die Konkubine hatte sich die Unterlippe blutig gebissen. Saga hatte sie noch nie so angespannt gesehen, nicht einmal auf der Insel.
»Gehen wir hinein«, sagte Gahmuret so leise, dass es kaum zu verstehen war. Er drehte sich um und humpelte voraus. Das Gehen bereitete ihm Schmerzen; ohne den Stab, auf den er sich stützte, hätte er sich wohl gar nicht mehr fortbewegen können.
Violante folgte ihm.
Saga blickte Karmesin an, die ihr kaum merklich zunickte. Langsam gingen sie hinterher. Alles in Saga schrie danach, sich herumzuwerfen und die Festung zu verlassen. Karmesins Worte, niemanden zu berühren, hallten in ihren Ohren nach. Falls es dennoch die Atemluft war, die den Aussatz übertrug, war es längst zu spät. Sie wartete darauf, dass einer der Kranken auf sie zusprang, doch keiner bewegte sich. Nur die Blicke der Mensehen folgten ihnen, die meisten vollkommen ausdruckslos, ausgelaugt von ihrem Leiden und der langen Belagerung.
Sie horchte auf den Lügengeist, doch wohin auch immer er sich zurückgezogen hatte, er regte sich nicht mehr. Vielleicht hatte er erkannt, dass sie zum ersten Mal einem Feind gegenüberstand, gegen den mit der Unwahrheit nicht anzukommen war. Die Krankheit ließ sich nicht belügen.
Sie folgten Gahmuret und Violante in einen Saal, in dessen Decke ein pferdegroßes Loch klaffte. Darunter lag ein Haufen geborstenen Gesteins. Niemand hatte sich nach dem Katapulttreffer die Mühe gemacht, die Trümmer aufzuräumen.
Vier Männer drängten hinter ihnen durch die Tür, aber Gahmuret gab ihnen mit einem erschöpften Wink zu verstehen, dass sie sich zurückziehen sollten. Alle waren vom Aussatz befallen, trugen schmutzige Verbände und zerschlissene Kleidung. Saga war froh, als die Tür hinter ihnen zufiel.
Um eine Tafel standen hochlehnige Stühle. Gahmuret machte die letzten paar Schritte mit einem erschöpften Schnaufen und nahm auf einem Sitz am Ende des Tisches Platz. Die Gräfin blieb stehen; auch Karmesin und Saga hielten Abstand. Um nichts in der Welt wollte Saga einen Stuhl berühren, auf dem ein Aussätziger gesessen hatte.
Gahmuret blickte Violante schweigend an. Seine Augenlider flackerten, als blendete ihn etwas. Dabei war es in der Halle so düster, dass selbst die Wände kaum zu erkennen waren. In der Mitte des Saales züngelten Flammen aus einer vertieften Feuerstelle; halb verbrannte Überreste verrieten, dass hier auch Stühle von der Tafel verbrannt worden waren.
»Ihr hättet nicht kommen sollen«, brachte Gahmuret hervor, erschöpft von der Anstrengung des Weges. »Ihr werdet … enden wie wir alle.«
Zwischen ihm und Violante hing die Geschichte dieser beiden wie ein unsichtbares Gespinst in der Luft, das mit jedem Atemzug weitere Fäden warf, Verstrickungen und Knoten bildete. Wieder hatte Saga das Gefühl, dass da mehr war, als sie bislang geglaubt hatte.
Irgendetwas war grundlegend
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