Herrin der Lüge
falsch.
In den Blicken, die Violante Gahmuret zuwarf, war keine Spur von Liebe. Nicht einmal Zuneigung.
Saga dachte erneut, dass es an der Zeit wäre, von hier zu verschwinden. Aber sie war zu gebannt vom Ausgang dieser Tragödie, schlimmer noch: Sie selbst war längst viel zu sehr Teil davon, um sich jetzt noch zurückzuzie hen.
»Sie haben Leichenteile über die Mauern geschleudert … Glieder von Aussätzigen … einen ganzen Tag lang. Dutzende, vielleicht ein paar hundert.« Gahmuret schaute zur Decke, als sähe er die Szene dort noch einmal vor sich. »Es regnete Arme und Beine vom Himmel, halbe Leiber … Und es schien kein Ende zu nehmen. Immer mehr fielen herab.« Seine Stimme wurde zum Flüstern. »Immer mehr.«
Alles in Saga verkrampfte sich, als die Bilder jenes Tages in ihrer Vorstellungskraft zum Leben erwachten.
»Wir haben versucht sie zu verbrennen, so wie wir heute unsere eigenen Toten verbrennen. Nach Stunden waren die ersten meiner Männer so weit, dass sie fast den Verstand verloren. Sie rissen das Tor auf und rannten hinaus, aber die Bogenschützen der Seldschuken haben draußen auf sie gewartet. Keiner hat es bis zum Lager geschafft, die Schützen haben sie alle erwischt. Jetzt verrotten ihre Leichen draußen auf dem Berg, und wir verrotten hier drinnen bei lebendigem Leibe.« Seine Hand ballte sich zu einer zitternden Faust, um gleich darauf wieder zu erschlaffen. »Wir werden ihnen bald folgen.«
Die Lippen der Gräfin bebten. »Wo ist er, Gahmuret? Ist er auch krank?« Sie führte die Hand zum Mund und ließ sie wieder sinken. Ihre Augen verengten sich, sie blinzelte. »Er ist nicht … gestorben, oder? Sag mir, dass er noch lebt.«
Saga hatte das Gefühl, als wäre sie in der Zeit ein Stück nach vorn gesprungen, und nun fehlten ihr ein paar wichtige Erklärungen. War ihr irgendetwas entgangen? Von wem redete Violante?
Gahmuret sah seine Gemahlin eine Weile lang ausdruckslos an, dann sprach er wieder, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Wir sind nur um Haaresbreite aus Konstantinopel entkommen.« Sein Geist verlor sich in Erinnerungen, sein Blick glitt ins Leere. »Da war ein Mann mit durchschnittener Kehle, der trotzdem gelebt hat …«
»Der Bethanier«, sagte Karmesin.
Saga sprach zum ersten Mal, ohne sich dessen gänzlich bewusst zu sein. »Karmesin hat ihn getötet.«
Gahmuret nickte schwach. »Das ist gut.« Dann blickte er in die Richtung der beiden Frauen, als nähme er sie zum ersten Mal wahr. »Du bist die Karmesin?«
Ihr Hand lag noch immer am Dolch, als sie nickte.
Etwas, das ein Lachen sein mochte, kam über Gahmurets Lippen, ohne dass sich seine erstarrten Züge bewegten. Saga schauderte.
»Dann hat Innozenz mich also doch noch gefunden. Du kommst zu spät.«
Wie in einem Albtraum beobachtete Saga, dass Karmesin die Klinge aus ihrem Gürtel zog. Flammen spiegelten sich auf dem Stahl.
»Ich weiß«, sagte die Konkubine.
Saga sah Karmesin ungläubig an, während ihre Fassungslosigkeit in widerwilliges Begreifen umschlug.
Violante wirbelte herum. »Nein!«
Saga prallte von Karmesin zurück, als hätte sie ihr einen Stoß gegeben. Doch die Konkubine stand einfach nur da, das blitzende Stilett in der Hand, vollkommen reglos.
Gahmuret breitete in einer grotesken Geste die Arme aus. »Dann komm!«, raunte er Karmesin zu und schloss die Augen. »Stoß mir deine Klinge ins Herz. Deshalb bist du doch hier.«
»Nein!«, brüllte Violante erneut. »Du wirst ihn nicht töten!
Nicht, bevor er mir gesagt hat, was aus meinem Sohn geworden ist!«
Die Zeit gefror zu einem undeutlichen Nebel, wie der Blick durch Eis zum Grund eines gefrorenen Sees. In Sagas Verstand manifestierten sich zwei Gedanken. Erstens, Karmesin hatte sie alle hintergangen; sie war hergekommen, um Gahmuret zu ermorden – und nur deshalb. Und, zweitens, Violante hatte ebenfalls gelogen, die ganze Zeit über. Sie war nicht hier, weil sie Gahmuret liebte, sondern um etwas von ihm zu erfahren. Etwas, das nur er allein wusste.
Aber was hatte ihr Sohn damit zu tun? Nikolaus war daheim auf Burg Lerch. In Sicherheit.
Gahmuret brach das Schweigen mit einem leisen Kichern. Aus Gründen, die nur er kannte, fiel sein Blick dabei ausgerechnet auf Sagas entgeisterte Züge. »Violante hat euch angelogen, nicht wahr? Was hat sie euch erzählt, warum sie hier ist?« Er wandte sich an seine Gemahlin. »Was hast du ihnen gesagt?«
Saga wünschte sich, einen Blick mit Karmesin zu wechseln, nur eine Geste, die ihr
Weitere Kostenlose Bücher