Herrin der Lüge
Übelkeit und dem Zerren in ihrem Magen zusammenzubrechen drohte. »Nicht jetzt!«, zischte sie. »Nur noch ein paar Schritte! Dann haben wir es geschafft.«
Was geschafft?, dachte Saga benommen. Aber sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten und war dankbar für den Halt, den die Konkubine ihr bot. Stolpernd folgte sie Violante und ihr ins Innere der belagerten Festung. Schemenhafte Gestalten bewegten sich um sie herum, wieder knirschten Ketten, quietschten eiserne Scharniere. Das Tor schlug zu. Riegel schrammten über Holz und Metallverstrebungen.
Saga sah über ihre Schulter, sie hätte gern noch einmal zum Lager hinabgeblickt. Aber es war schon zu spät. Eine Wand aus Dunkelheit hatte sich hinter ihnen geschlossen.
»Wir müssen zu Graf Gahmuret«, stammelte sie, ehe ihr einfiel, dass sie noch immer auf den Lügengeist angewiesen waren. Er tobte in ihrem Leib, als wäre er aus Fleisch und Blut, schlug und kratzte und trat wie ein Ungeborenes, damit er nur ja nicht in Vergessenheit geriet.
Wie könnte ich dich je vergessen?, dachte sie zynisch. Du bist ein Teil von mir.
Jajaja, das bin ich!, schien er so ungestüm zu brüllen, dass die Worte in ihren Ohren hallten. Ich bin du! Du bist ich! Fleischgewordene Lügenmacht, das sind wir!
Sie fragte sich: Verliere ich den Verstand? Da ist niemand in mir. Niemand außer mir selbst. Ich bin die Lügnerin. Keiner sonst ist da. Keiner sonst.
Ich allein bin die Lügnerin.
»Saga«, flüsterte Karmesin mit Nachdruck. »Sag etwas!«
Einen Moment lang klärte sich ihr Blick. Sie erkannte den Torwächter an seiner Stimme, aber sie verstand kaum, was er redete. Kahlköpfig war er und hielt sich seltsam gebückt. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, sein Atem klang rasselnd, genau wie seine Stimme. Alle Männer um sie herum schienen stark zu schwitzen, viele standen leicht vornübergebeugt. Irgendwo in der Ferne erklang ein Wimmern, dann ein furchtbarer Schrei, weit weg, hinter uralten Mauern.
»Was war das?«, keuchte Saga benommen.
»Ich weiß es nicht.« Karmesins Griff um ihren Arm wurde so fest, dass es wehtat. »Saga, lüg sie jetzt an! Sag irgendwas!«
»Ich bringe euch die Rettung«, brachte sie erneut hervor, und das schrille Organ des Lügengeists raubte ihr fast das Bewusstsein. Wenn nur irgendwer sonst ihn so hören könnte! So ganz und gar unmenschlich! Das konnte doch nicht sie selbst sein!
Niemals ich seihst, hallte es wie ein Echo in ihr.
»Ich muss zu Graf Gahmuret. Bringt uns zu ihm, und euch allen soll geholfen werden. Ihr werdet diese Burg verlassen können. Ganz egal, was ihr getan habt. Ihr werdet Gerechtigkeit und Gnade finden.«
Sie taumelte und wäre zusammengebrochen, hätte Karmesin sie nicht gepackt. Auch Violante schob ihr jetzt einen Arm unter die Achsel. So hing sie zwischen den beiden Frauen und begriff erst ganz allmählich, dass etwas nicht stimmte. Nicht nur mit ihr, sondern mit all diesen Männern. Mit dieser ganzen verfluchten Burg und ihren Bewohnern.
Der Gestank! Es roch nach Tod, aber anders als draußen am Hang. Nicht nach Verwesung, vielmehr nach langer Krankheit, nach Eiter und Fieber und eiskaltem Schweiß.
»Himmel!«, entfuhr es Karmesin, als sich ihre Augen an den Fackelschein gewöhnten.
Violante stieß ein Keuchen aus.
»Kommt«, flüsterte der Torwächter heiser. »Ich bringe Euch zum Grafen.«
Alles war falsch. Saga spürte es, sah es auch, aber sie war noch immer zu verwirrt, um die einzelnen Elemente zusammenzufügen. Sie würgte den Lügengeist in sich nieder, wie etwas, das ihre Kehle verstopfte, und spürte, dass sie die Oberhand gewann. Aber dazu musste sie zugleich die Außenwelt aussperren, und sie hatte das Gefühl, dass das ein schwerwiegender Fehler war. Sie musste wissen, was hier vorging.
Trotz der Aufforderung des Torwächters blieben Karmesin und Violante stehen. Saga röchelte und erbrach sich vor ihre Füße. Die Frauen hielten sie noch immer fest. Sie hing jetzt mehr im Griff der beiden, als dass sie auf eigenen Beinen stand.
Falsch. Alles falsch.: Der Lügengeist kreischte und wurde einmal mehr in sein Exil am Grunde ihres Verstandes verbannt. Aber für wie lange? Er war ihr noch nie so stark, so fordernd erschienen. Vielleicht weil er ahnte, dass dies seine letzte, seine allerletzte Lüge sein mochte.
»Kommt jetzt«, keuchte der Wächter, als hätte er Mühe, klare Worte herauszubringen. Oben auf der Mauer hatte Saga das für eine Folge seines schnellen Treppenaufstiegs gehalten.
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