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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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»Du sollst sie beide töten?«
    »Innozenz beseitigt die letzten Zeugen«, röchelte Gahmuret, und wieder klang es, als wollte er lachen. »Violante hat sie hier hereingebracht, und nun ist auch sie überflüssig. Wer sonst noch? Der Doge und Bonifaz sind tot … Oldrich? Es würde mich wundern, wäre er noch am Leben.«
    Violante stieß sich von der Tischkante ab, aber es wurde ein Taumeln daraus, so als müsste sie sich auf jede Bewegung konzentrieren. Sie hatte die Kontrolle über die Ereignisse verloren, aber nun war sie bereit, alles zu tun, um erneut die Oberhand zu gewinnen – sogar das Leben ihres verhassten Gemahls zu retten. Noch während der ersten Schritte straffte sie sich, bis sie fast wieder wie die frühere Violante erschien, Herrin auf Burg Lerch, Führerin von Tausenden.
    Sie hob beide Hände und ging auf Karmesin zu. »Du wirst mich nicht daran hindern, meinen Sohn zu finden.«
    Saga wich alarmiert zurück. In einem gewöhnlichen Kampf wäre Violante der Meuchelmörderin heillos unterlegen gewesen. Doch die Gräfin hatte begriffen, dass ihr eigenes Verhängnis ihre beste Waffe war. Karmesin konnte sie töten, gewiss, aber nicht der Berührung ihrer Hände entgehen – und dem ansteckenden Wundsekret, das sie überzog. »Zurück!«, rief die Konkubine. »Kommt nicht näher.«
    Violante bewegte sich sehr langsam, aber sie hielt nicht inne.
    Schritt um Schritt kam sie auf Karmesin zu, beide Hände ausgestreckt wie ein Geist. Und Saga dachte wie betäubt: Genau das sind sie alle. Geister. Untote. Jeder von ihnen.
    Sogar ich selbst.
    Violantes Finger glänzten im Feuerschein.
    »Nicht«, flüsterte Karmesin. Sie klang schwermütig, erfüllt von unbestimmter Trauer. Violante ging weiter.
    »Bitte«, sagte Karmesin, aber es lag nichts Flehendes darin. Gahmuret stieß ein schrilles Lachen aus. Seine Narbenmaske blieb starr und kalt wie das Gesicht eines Steingötzen. »Violante!« Saga hörte sich ihren Namen rufen, während sie zurückstolperte, weiter fort von Karmesin, auch von der Gräfin, bis sie dem Feuer in der Mitte der Halle gefährlich nahe kam. Die Hitze zwang sie zum Innehalten.
    Violante wurde schneller. Noch fünf Schritte.
    Wie ein Flammenstrahl zuckte etwas auf die Gräfin zu. Flirrendes Feuer, funkelnd auf Stahl. Sagas Augen waren zu langsam, um dem Blitzflug der Klinge zu folgen. Als ihr Blick bei Violante ankam, ragte der Griff aus ihrer Brust und sah dabei so grotesk harmlos aus, dass die beiden Schritte, die sie jetzt noch machte, ganz natürlich wirkten, gar nicht wie Bewegungen einer Todgeweihten.
    Gahmurets Lachen brach ab.
    Violante stieß ein Röcheln aus. Ihre Züge verhärteten sich zu … Fassungslosigkeit? Sie drehte sich um und ging mit der Klinge im Herzen denselben Weg zurück. Zu Gahmuret, Schritt um Schritt um Schritt, bis sie neben seinem Stuhl auf die Knie fiel, mit einem scheußlichen Knacken ihrer Gelenke auf Stein. Sie nahm seine Hand und blickte zu ihm auf.
    »Malachias«, flüsterte sie, dann sackte ihr Kopf nach vorne. Sie blieb einfach sitzen, das Gesicht an seine Hand gepresst, während Haarsträhnen vor ihre Züge fielen und sie verdeckten.
    So starb Violante, die Gräfin von Lerch, Gemahlin des Gahmuret, Führerin des Kreuzzugs der Jungfrauen.
    Saga erwachte aus ihrer Erstarrung, als die Hitze in ihrem Rücken unerträglich wurde. Auch Karmesin bewegte sich wieder, ließ die Hand sinken, die den Dolch geworfen hatte, machte einen Schritt nach vorn, blieb wieder stehen. Zum ersten Mal wirkte sie verunsichert.
    Gahmuret saß reglos auf seinem Stuhl, den Blick zwischen Narbenwülsten auf seine tote Gemahlin gerichtet. Was immer er empfinden mochte, es blieb verborgen hinter der Maske seiner entstellten Grimasse. Saga dachte einen unwirklichen Augenblick lang, dass dieser Mann weit schlimmere Narben besaß als jene, die er offen zur Schau trug.
    Er sah von Violante zu Karmesin. »Bist du jetzt zufrieden, Konkubine?«
    Saga schien vergessen. Keiner kümmerte sich um sie. Sie konnte noch immer kaum glauben, dass Violante tot war. Und dass beide – die Gräfin und Karmesin – sie all die Monate über belogen hatten, unabhängig voneinander, und dass sie nichts davon geahnt hatte.
    Etwas starb in ihr. Vielleicht der Rest ihres Vertrauens in andere. Vielleicht ihr Glaube an Gerechtigkeit oder was davon übrig war. Womöglich sogar der Lügengeist selbst. Falls er starb, dann tat er es leise und elend, zusammengerollt in einer Ecke ihres Bewusstseins. Ohne

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