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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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darüber zu sprechen, lasst Ihr Faun dann umbringen?«
    Saga hatte bissig klingen wollen, doch Violante nahm die Frage ernst. »Nein«, sagte sie. »Aber wenn du mir von dir erzählst, dann werde ich dir mehr über mich erzählen. Und warum ich dich vielleicht besser verstehe als jede andere.«
    Saga schnaubte verächtlich. »Nur weil Ihr gelernt habt zu lügen?«
    Violante schüttelte den Kopf. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt, und die Schatten des Lagerfeuers verstärkten noch den Eindruck tiefer Nachdenklichkeit. »Ich bin vielleicht eine passable Lügnerin, aber das ist, ehrlich gesagt, keine große Kunst. Manche von uns können einfach besser mit der Unwahrheit umgehen als mit der Wahrheit. Sich selbst und andere anzulügen ist nicht schwer, wenn man einmal heraushat, wie es geht. Nein, Saga, was ich dir voraushabe, ist etwas anderes. Im Gegensatz zu dir weiß ich, warum wir lügen. Und was eine Lüge eigentlich ist.«
    Saga musterte sie verwundert. Was eine Lüge ist? Daran gab es nicht viel herumzudeuten. Ebenso gut hätte die Gräfin in den Wald zeigen und behaupten können, sie wisse, was ein Baum wirklich ist. Ein Baum war ein Baum. Und eine Lüge eine Lüge.
    Trotzdem war Saga jetzt neugierig. »Was wollt Ihr wissen?«, fragte sie nach kurzem Zögern.
    »Was fühlst du, wenn du die Leute anlügst?«
    Saga überlegte nicht lange. »Meint Ihr Skrupel? Ich hatte früher ein schlechtes Gewissen dabei, aber das geht vorüber.«
    Violante nickte langsam, sah dabei aber unverwandt ins Feuer. »Mit der Zeit vergisst man, dass Lügen doch eigentlich etwas Schlechtes sein sollte. Außer für einen selbst, natürlich.« Ihr feines Lächeln wirkte nicht besonders humorvoll, eher niedergeschlagen. »Ich habe als kleines Mädchen mit dem Lügen begonnen und seither nicht mehr damit aufgehört.«
    Sie sollte mir so etwas nicht erzählen, dachte Saga irritiert. Müsste sie mich nicht bedrohen und versuchen, mich einzuschüchtern? Stattdessen schüttet sie mir ihr Herz aus wie einer alten Freundin.
    »Ich habe die alten Philosophen studiert, um zu erfahren, was sie über die Lüge wussten. Ich bin in Klöster am anderen Ende des Landes gereist, um Einblick in ihre Bibliotheken zu nehmen.«
    Saga spürte, wie ihre Gedanken abdrifteten. Der Lügengeist pulsierte in ihr wie ein zweites Herz. Ich bin immer noch da. Benutze mich.
    »In Griechenland gab es vor langer Zeit einen weisen Mann namens Aristoteles.«
    Saga hörte den Namen zum ersten Mal.
    »›Es kennzeichnet den Gebildetem«, zitierte Violante, »›in jedem Gebiet nur so viel Genauigkeit zu verlangen, wie es die Natur des Gegenstandes zulässt.‹ Das hat er gesagt. Mit anderen Worten: Jeder darf selbst entscheiden, wie lange er bei der Wahrheit bleibt. Alles eine Frage der Sichtweise.« Sie lachte leise, dann fiel ihr etwas anderes ein. »Oder nimm nur die Kirche – weißt du, was sie vom Lügen hält?«
    »Gott verbietet es.«
    »In der Tat. Dabei wird doch gerade in der Bibel ohne Unterlass gelogen. Jakob, zum Beispiel, der sich als sein älterer Bruder Esau ausgibt, um von Isaak gesegnet zu werden. Joseph, der in Ägypten seine wahre Herkunft und seinen Namen verheimlicht – und dafür seit tausend Jahren gepriesen wird. Oder denk nur an Petrus, den ersten Heiligen Vater, der sich abwechselnd mal als gläubiger Jude, mal als Christ ausgibt. Und was ist mit den ägyptischen Hebammen, die behaupten, sie seien niemals ; bei der Geburt eines jüdischen Kindes dabei gewesen? Dafür wurden sie von Gott sogar belohnt!« Violante sah aus, als hätte sie am liebsten ins Feuer gespuckt. »So viele Lügen, egal wohin man sieht. Ausgerechnet in dem einen Buch, dessen Lektüre unsere Herzen und Seelen reinigen soll.«
    Saga kannte die Geschichten der Bibel nur von den Predigern auf den Marktplätzen, und mit den meisten Episoden, die Violante erwähnt hatte, wusste sie nichts anzufangen. Trotzdem begann etwas von alldem zu ihr durchzudringen. Es war, als bekämen ihre eigenen Gedanken dadurch eine Art neues Fundament. Die Menschen verurteilten das Lügen, jubelten Saga aber zu, wenn sie es zu ihrer aller Vergnügen tat. Und natürlich logen sie selbst, wenn dabei ein Vorteil für sie heraussprang.
    »Ich glaube«, fuhr die Gräfin fort, »der Herr hat den Menschen die Fähigkeit zum Lügen geschenkt, weil sie noch immer unsere beste Waffe im Kampf ums Überleben ist. Durch geschickte Lügen sind mehr Kriege verhindert worden als durch Drohungen mit dem Schwert. Ein

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