Herrin der Lüge
wildes Tier hat scharfe Zähne, wir aber eine scharfe Zunge – und manche wissen sie schlauer zu nutzen als andere.« Sie zuckte die Achseln. »Das ist das ganze Geheimnis, so wie ich es sehe.«
Saga starrte sie verwundert an. Die Worte der Gräfin klangen so vernünftig, so nachvollziehbar. Nicht was sie sagte, irritierte sie, sondern vielmehr, warum sie überhaupt davon sprach – und ausgerechnet zu ihr. Außerdem bestürzte es Saga, dass sie die Gefühle, die sie Violante entgegenbrachte, nicht in den Griff bekam. Sie war noch nie jemandem begegnet, der so offen über die eigenen Gedanken sprach. Und so gebildet war. Ihr Vater hatte sie gelehrt – oft mit der Kraft seiner Hand –, dass man Ideen, die nichts mit dem täglichen Überleben zu tun hatten, am besten vergaß. Dummes Zeug, hatte er gesagt, nichts als Hirngespinste.
»Und nun erzähl mir von dir«, bat Violante. »Du weißt jetzt, dass ich dich nicht verurteile. Du kannst ganz aufrichtig sein. Wirst du das tun?«
Saga war nicht sicher, was die richtige Antwort darauf war. Sobald sie an Faun dachte, wollte sie der Gräfin am liebsten an die Kehle gehen – und dann wieder, wenn sie sein Gesicht verdrängt hatte, die Verzweiflung über seine Gefangenschaft, dann, ja dann war ihr fast, als könnte sie dieser Frau vertrauen. Einer Frau, die sie entführt hatte und die ihren Bruder mit dem Tod bedrohte. Sie ahnte schon, wie sie darüber denken würde, wenn sie eine Nacht geschlafen hatte.
»Wann hast du zum ersten Mal gespürt, dass du besser lügst als alle anderen?« Violantes feingliedrige Hände knickten gedankenverloren ein Stück Rinde, das sie vom Rand der Feuerstelle aufgehoben hatte. Zwischen ihren Fingern wurde die weiche Borke zu etwas mit vier Beinen, einem Pferd oder Hund. Tatsächlich tat sie damit das Gleiche wie mit der Wahrheit: Sie bearbeitete und verdrehte sie, bis es ihr gefiel.
Zuletzt warf sie die Rinde achtlos in die Flammen und schaute zu, wie sie verbrannte.
»Ich war noch sehr klein«, sagte Saga. »Sechs Jahre alt, höchstens sieben. Eines Morgens bin ich aufgewacht und wusste, dass ich es kann. Ich wusste, ich kann jeden Menschen belügen, solange er nur bereit dazu ist. Wenn da ein winziges Stück Überzeugung in ihm ist, ein kleines bisschen Bereitschaft, mir zu glauben – dann habe ich gewonnen.« Saga schlug die Augen nieder. Nun, da sie so offen darüber sprach, schämte sie sich fast dafür. »Es war einfach da.«
»Aber was genau?«, bohrte die Gräfin nach. »Was war da?«
Saga zögerte nur kurz. »Der Lügengeist.«
Eine Pause entstand zwischen ihnen, Augenblicke unangenehmen Schweigens. »Wer ist das?«
»Er ist in mir. Ganz tief drinnen. Ich kann mit seiner Stimme sprechen. Niemand sonst kann ihn hören, aber ich schon.«
»Hast du vorhin versucht, ihn bei mir einzusetzen? Mich mit seiner Hilfe zu belügen?«
Noch ein Zaudern. »Ja. Aber Ihr habt mir trotzdem nicht geglaubt.«
»Dann kann er kein echter Geist sein. Geister sind allmächtig.«
»Ich könnte es noch einmal versuchen … Euch zu belügen, meine ich. Aber nicht jetzt. Ich bin zu durcheinander, glaube ich.«
Im Tonfall der Gräfin lag jetzt Heiterkeit. »Das wäre ein interessanter Versuch, in der Tat.«
Das kannst du haben, dachte Saga grimmig. Gib mir die Gelegenheit, und ich werde lügen, dass dir die Zähne ausfallen. Nur weil ich mit dir rede, bedeutet das nicht, dass ich dir irgendwas verziehen habe. Ganz bestimmt nicht.
Aber sie sagte nur: »Vielleicht, ja.«
»Was genau ist er, dieser Lügengeist? Weißt du das?«, fragte Violante.
»Nein. Er ist einfach … da.«
»Redet er selbst mit dir? So wie ein Mensch?«
Saga schüttelte den Kopf.
»Und du hattest nie Angst vor ihm?«
»Am Anfang schon. Ich dachte, er ist der Teufel.«
Die Gräfin nickte zustimmend. »Manch einer könnte auf die Idee kommen … Aber nicht ich, keine Sorge«, fügte sie hastig hinzu. »Wenn die Lüge eine Waffe ist, dann führt eben manch einer eine stärkere Klinge als der andere.«
»Und was wollt Ihr von mir?«, fragte Saga. »Warum interessiert Ihr Euch für mich? Doch nicht nur, weil Ihr gelehrte Schriften über das Lügen gelesen habt?«
Violante stieß ein leises Seufzen aus. Sie blickte über die Flammen hinweg zur anderen Seite des runden Platzes. Sie waren noch immer allein am Feuer, doch als Saga ihrem Blick folgte, erkannte sie in der Dunkelheit zwischen den Wagen die Nonne Gunthild, ein geisterhaftes Stück Nacht, dem ein bleiches
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