Herrin der Lüge
Buschwerk bildeten eine Mauer, durch die Gegner sich nicht nähern konnten. Die Soldaten konnten ihre Aufmerksamkeit auf die andere Seite konzentrieren. Durch das linke Fenster blickte Saga über das winzige Rund zwischen den Wagen hinaus in die gewaltige Landschaft, verschleiert vom Nieselregen, aber immer noch weit und wild genug, um ihr die eigene Gefangenschaft noch schmerzlicher vor Augen zu füh ren.
Sie befanden sich auf einer Anhöhe. Jenseits der Kutschen senkte sich das Land hinab zu einem grasbewachsenen Hügelmeer. Wind und Regen kämmten die Wiesen nach Osten, an vielen Stellen lagen die Gräser flach am Boden und bildeten bizarre Muster im endlosen Grüngrau.
Diesmal war es keine Magd oder Kammerzofe, die Saga Essen und Wasser brachte, sondern die alte Nonne. Ihre schwarzen Gewänder wurden von den Winden aufgeplustert und füllten Sagas gesamtes Blickfeld. Das bleiche Gesicht schien inmitten der Finsternis zu schweben wie ein halb erloschenes Irrlicht. Sie schob einen Laib Brot, ein Stück Wurst und Käse durch die Gitterstäbe, danach einen Tonbecher mit Wasser.
Hungrig stopfte Saga alles in sich hinein. Es war eine ganze Weile her, seit sie zuletzt gegessen hatte. Kauend blickte sie auf und bemerkte, dass die Nonne sie noch immer anstarrte.
»Dein Name ist Gunthild«, stellte Saga zwischen zwei Bissen fest. Sie hatte eingesehen, dass es auf Dauer unmöglich war, ihre Entführer anzuschweigen. »Was für eine Nonne bist du? Welcher Orden?«
»Benediktinerin.«
»Die legen ein Schweigegelübde ab«, murmelte Saga mit vollem Mund. »Warum redest du dann mit mir?«
»Ich habe den Orden verlassen.« Gunthilds Gesicht blieb starr und knöchern. »Für das hier.« Zum ersten Mal war so etwas wie eine Gefühlsregung in ihrem Tonfall zu hören, eine Spur von Zynismus, die Saga bei ihr als Letztes erwartet hatte.
»Um mich zu entführen?«
Gunthild stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Dich? Gott, wenn ich früher von dir gewusst hätte …« Sie brach ab und schüttelte den Kopf so ruckartig, dass er aussah wie eine Holzfratze auf einem Stock, die ein Puppenspieler im Inneren des schwarzen Gewänderwirbels bewegte. »Diese Sache ist größer als ich oder die Gräfin oder irgendeiner von uns anderen. Ganz sicher größer als du! Du wirst vielleicht noch manchmal den Eindruck bekommen, dass dies alles sich nur um dich dreht. Dabei ist es nur wie bei einem faulen Apfel, der vom Baum fällt und um den sich das Ungeziefer schart. Der Apfel, das Ungeziefer – alles dient nur dazu, dass die Kerne ins Erdreich sinken und ein neuer gesunder Baum heranwächst. Aus dem, was wir tun, wird etwas Neues, etwas Großartiges entstehen. An uns selbst aber wird sich schon bald keiner mehr erinnern wollen.«
Überrumpelt von dem unvermuteten Redeschwall ließ Saga ihren Tonbecher sinken. »Warum sagt mir dann niemand, um was es geht? Was hat die Gräfin vor? Und warum braucht sie mich dazu?«
»Es gab eine Zeit, da war ich ihr gut genug. Aber nun gibt sie dir den Vorzug.«
»Aber dich hat sie nicht entführt! Du bist freiwillig hier.«
»Sie braucht auch heute noch meine Hilfe. Du wirst meine Hilfe brauchen.«
Saga hob den Rest vom Brotlaib und den letzten Bissen Käse. »Danke.«
»Nicht als deine Dienstmagd!«, fuhr die Nonne sie an. »Das meine ich nicht.«
Saga ahnte sehr wohl, dass Gunthild auf etwas anderes hinauswollte, aber sie verspürte Genugtuung dabei, die alte Frau zu reizen. Sie verabscheute die Geheimniskrämerei, mit der Gunthild und die Gräfin ihr begegneten. Sie fürchtete jetzt nicht mehr um ihr Leben – sie tanzte auf dem Hochseil, aber es stand noch nicht in Flammen – , und sie wollte irgendjemandem heimzahlen, was Faun in diesem Kerkerloch durchmachen musste. Sie hoffte, dass sie bald in die Nähe der Gräfin käme. Wenn Violante sie tatsächlich so dringend brauchte, dann käme Saga beim nächsten Mal vielleicht mit mehr davon als einem Schlag ins Gesicht. Ihre Furcht, die vorher wie ein Nebel um alle ihre Sinne gewabert war, ballte sich zu einem Kern aus ungeheurer Wut. Es war unüberlegt gewesen, sie Faun sehen zu lassen, erst recht in diesem Verlies. Violante war also nicht unfehlbar, ihre Pläne weniger scharf durchdacht, als sie Saga glauben machen wollte.
Gunthild wollte gehen.
»Hörst du ihn auch?«, fragte Saga unvermittelt.
»Ihn?«
»Den Lügengeist.«
Die Züge der Nonne blieben starr, verständnislos. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
Saga musterte sie
Weitere Kostenlose Bücher