Herrin der Lüge
prüfend und kam zu dem Schluss, dass Gunthild die Wahrheit sagte. Sie wich dem stechenden Blick der Nonne aus. »Nichts. Schon gut.«
Gunthild stand noch einen Moment länger da, und in ihren Augen war jetzt ein alarmiertes Leuchten, ein Zeichen von Unverständnis und Sorge. Dann aber drehte sie sich wortlos um und ging.
Es war später Abend, als der Wagenzug abermals anhielt. Um diese Jahreszeit wurden die Tage länger, und so war die anbrechende Dunkelheit ein verlässliches Zeichen für die große Entfernung, die sie zurückgelegt hatten. Vielleicht ging es der Gräfin tatsächlich nur darum, in kürzester Zeit so viele Meilen wie möglich zwischen sich und Burg Lerch zu bringen.
Aber Saga mochte nicht glauben, dass das alles war. Violante war auf der Flucht, natürlich; sie selbst hatte gesagt, dass die Abreise aufgrund des nächtlichen Angriffs vorgezogen worden war. Dennoch war der Aufbruch seit längerer Zeit geplant gewesen. Allmählich fragte sich Saga, ob gar die Einladung ihrer Familie nur dem Zweck gedient hatte, sie auf die Burg zu locken. War es möglich, dass ihr Ruf ihr so weit vorausgeeilt war? Wer war sie denn schon? Nur eine Jahmarktsattraktion.
Aber, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, wie viele andere Menschen können lügen wie du?
Draußen wurde ein Riegel zurückgeschoben. Saga durfte die Kutsche verlassen. Zwei Soldaten nahmen sie in Empfang, einer legte ihr eine Schlaufe um den Hals. Der Hanf kratzte und zog sich schmerzhaft zusammen, als sie ein paar voreilige Schritte machte. Stumm führten die Männer sie bis zum Waldrand. Die beiden wandten sich ab, als Saga ihr Kleid hochzog und sich hinter einen Busch hockte.
»Wo kann ich mich waschen?«
Die Männer wechselten einen Blick, dann deutete der eine zu einer Wand aus Schilf, nicht weit vom Lagerplatz entfernt. Vier junge Frauen, Kammerzofen der Gräfin, teilten gerade die mannshohen Gräser und traten hindurch.
»Darf ich?«, fragte Saga.
Der eine Soldat nickte mürrisch.
Als sie an ihrer Leine den Zofen ins Schilf folgte, blickte sie zurück zu den Wagen und Soldaten. Mehrere Lagerfeuer waren entzündet worden, dunkle Silhouetten wanderten umher. Eine davon mochte die Gräfin sein – falls sie sich überhaupt unter die Mitreisenden mischte und es nicht vorzog, in ihrer Kutsche zu bleiben.
Hinter dem Schilf lag ein Tümpel. Zwei der Zofen hatten Fackeln dabei, die sie in den Uferschlick steckten. Der Feuerschein flackerte über die Wasseroberfläche.
Als die Zofen Saga bemerkten, verstummte ihr Gespräch. Schweigend sahen die vier zu, wie sie an den Teich geführt wurde, ohne Scheu ihr Kleid raffte und ins Wasser stapfte. Das Seil, an dem die Soldaten sie hergeführt hatten, war lang genug, sodass die beiden Männer zurück ins Schilf treten konnten. Saga war nur ein Mädchen von niederem Stand und als Spielmännin von zweifelhaftem Ruf; dass die beiden Soldaten sie dennoch so respektvoll behandelten, musste sie einem Befehl der Gräfin zu verdanken haben.
Saga ignorierte die abweisenden Blicke der Zofen, klemmte sich den Saum umständlich unters Kinn und wusch sich den Unterleib. Sie war übersät mit blauen Flecken vom Kampf mit den Soldaten, aber sie fand keine ernsthaften Wunden. Ihre Schmerzen beschränkten sich auf Muskelkater und ein paar empfindliche Druckstellen. Keine Brüche, keine verschorften Blutkrusten.
Ihr Kleid wurde trotz aller Obacht nass, aber als sie zurück ans Ufer ging, fühlte sie sich besser. Sie hatte sich Gesicht und Hals gewaschen und ihr langes Haar ins Wasser getaucht. Mochten die feinen Zofen dort drüben mit ihren Schüsseln und Tüchern hantieren, die sie gefüllt und befeuchtet zurück zum Lager trugen; Saga war es gleichgültig, was die vier über sie dachten. Sie fühlte sich erfrischt und wach, und für einen Augenblick erwog sie den Gedanken an Flucht. Dann aber dachte sie wieder an Faun und folgte den Soldaten gehorsam zum Lager. Sie hoffte nur, dass die Gräfin zu ihrem Wort stand und Faun kein Leid geschah. Es fiel Saga schwer, an ihn zu denken, ohne am ganzen Leib zu zittern. So gut es ging verdrängte sie die Erinnerung an die dunkle Kerkerzelle und versuchte stattdessen, so viel wie möglich von ihrer Umgebung aufzunehmen.
Die Wagen standen im Kreis angeordnet, dazwischen hatte man in drei Gruppen die Pferde festgebunden. Die Soldaten hatten rundherum Lagerfeuer entzündet, an denen je drei bis vier Männer saßen. Ihre Waffen lagen griffbereit, blankgezogene Schwerter und
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