Herrin der Lüge
Gesicht gewachsen war.
»Ich dachte, ich könnte sie benutzen für das, was uns bevorsteht«, sagte die Gräfin. »Aber dann ist mir klar geworden, dass dafür weit mehr nötig ist als eine verbitterte alte Frau. Ein Wunder, wohl eher. Und ich glaube, du bist dieses Wunder, Saga.«
Saga blickte sie verständnislos an.
»Als ich zum ersten Mal von dir gehört habe, von ein paar Händlern, die dich auf einem Markt im Norden gesehen hatten, da wusste ich sofort, du bist diejenige. Ich ließ Erkundigungen über dich anstellen, sandte Männer aus, die deine Vorführungen beobachtet und mir Bericht erstattet haben. Schließlich bin ich selbst zu einem deiner Auftritte gereist.« Sie lächelte schmallippig bei der Erinnerung daran. »Es war gar nicht so einfach, euer nächstes Ziel vorauszusehen, und zweimal habe ich dich knapp verpasst. Aber dann … nun, dann habe ich gesehen, welche Macht du besitzt, Saga. Ich wusste, du bist die Eine. Diejenige, mit der sich all meine Pläne erfüllen werden.«
»Welche Pläne?« Saga war es, als redeten sie über eine andere, nicht über sie selbst. Und doch fühlte sie sich insgeheim geschmeichelt über die Ernsthaftigkeit, mit der die Gräfin zu ihr sprach.
»Es ist noch zu früh, dich in alles einzuweihen. Aber bald wirst du es erfahren. Das verspreche ich dir.«
»Warum nicht jetzt?«
Die Miene der Gräfin verdüsterte sich einen Herzschlag lang. Sie war es nicht gewohnt, dass man ihr widersprach. »Wir sind noch nicht außer Gefahr. Noch kann alles scheitern. Der Kaiser lässt uns zweifellos verfolgen. Mehr als zwölf Männer konnte ich nicht mitnehmen, die übrigen müssen die Burg verteidigen, falls es nötig sein sollte. Wir sind hier draußen alles andere als sicher.«
»Ihr habt Angst um Euren Sohn«, stellte Saga fest.
»Große Angst sogar. Aber ich habe auch die Hoffnung, dass der Kaiser es vor allem auf mich abgesehen hat.«
»Dann dient dies alles nur dazu, die Mörder von Eurem Sohn fortzulocken?«
Ein gequältes Lachen kam über die Lippen der Gräfin. »Ich wünschte, es wäre so einfach. Bei Gott, das wünschte ich!«
Saga wartete schweigend ab, ob Violante fortfahren würde. Vielleicht war es besser abzuwarten, bis sie von selbst mit der Sprache herausrückte.
In diesem Augenblick aber brandete außerhalb der Wagenburg Lärm auf. Rufe ertönten, überall sprangen Männer auf die Füße. Rüstzeug und Waffen rasselten.
Saga und Violante waren gleichzeitig auf den Beinen.
»Sind sie das?«, fragte Saga. »Die Männer des Kaisers?«
»Das wäre ein böser Zufall, nicht wahr?«, flüsterte die Gräfin. Die Hitze des Feuers ließ ihre Züge verschwimmen. Sie sah plötzlich noch bleicher aus, dreieckige Schatten lagen hohl auf ihren Wangen. »Alle Frauen zu mir!«, rief sie. »Alle hier ans Feuer.«
Aus mehreren Richtungen stolperten die vier aufgeschreckten Zofen herbei. Auch Gunthild betrat das Rund zwischen den Wagen. Ihre Schritte, die sonst so gleitend, beinahe schwebend wirkten, hatten jetzt etwa Spinnenhaftes.
»Herrin!«, rief der Hauptmann. »Frau Violante!« Hastig schob er sich zwischen den unruhigen Pferden hindurch.
Saga war alles Blut vom Kopf in die Beine gesackt. Berittene in der Nacht waren niemals ein gutes Zeichen. Während des Bürgerkrieges hatte Pferdelärm im Dunklen oft bedeutet, dass jemand sterben würde.
Der Soldat kam auf die Gräfin zu und beugte sich flüsternd an ihr Ohr. Ihre Miene veränderte sich, aber Saga konnte den neuen Gesichtsausdruck nicht deuten.
»Gott sei Dank«, entfuhr es Violante mit einem scharfen Ausatmen. »Der Himmel meint es heute wahrlich gut mit uns.«
Die Gräfin zwängte sich ungeduldig zwischen den angebundenen Pferden hindurch. Der Hauptmann wollte ihr behilflich sein und zwei der Tiere an den Zügeln fortziehen. Aber Violante zeigte nicht die geringste Ehrfurcht vor den riesigen Schlachtrössern und schob sie mit bloßen Händen beiseite.
Saga schlüpfte hinter ihr durch die Lücke zwischen den Tieren, noch ehe der Hauptmann sie aufhalten konnte. Im Augenblick schien sich ohnehin niemand für sie zu interessieren. Eine gute Gelegenheit zur Flucht; vielleicht die beste, die sich ihr je bieten würde.
Aber sie blieb. Natürlich blieb sie. Die Gräfin mochte sie vorhin nicht wie eine Gefangene behandelt haben, sie mochte sogar versucht haben, Sagas Vertrauen zu gewinnen. Aber Saga zweifelte jetzt noch weniger als zuvor, dass Violante ihre Drohung wahr machen würde, sollte Saga einen
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