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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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schon lange gegen die Blasphemien der Welt an. Doch die Magdalena war etwas anderes als die Bettelmönche, Ketzer, Hexen. Niemand konnte ihm Genaueres über sie berichten. Keiner seiner Spione hatte sie je gesehen. Allmählich hatte er Zweifel, ob überhaupt jemand wusste, wie sie aussah. Und gerade das war es, was ihm Angst machte. Gegen einen Menschen konnte er vorgehen, darin hatte er hundertfache Erfahrung. Aber gegen ein Gerücht, gegen ein Trugbild?
    Der Bethanier hatte auf Anhieb gewittert, dass Oldrich in dieser Sache auf sich allein gestellt war. Der Wiedergeborene spürte Schwäche, so wie gewöhnliche Menschen einen Geruch wahrnahmen. Vielleicht weil er die letzte und größte aller Schwächen am eigenen Leib erfahren hatte, den Tod. Wohin auch immer der Schnitt durch seine Kehle ihn geführt hatte, er war verändert von dort zurückgekehrt.
    Oldrich erreichte den Eingang der Taverne. Gestalten lungerten zu beiden Seiten herum, standen in tuschelnden Gruppen beieinander, zu vertieft in ihre elenden Geschäfte, um den Kardinal unter seinem Lumpengewand zu bemerken.
    Die Tür stand einen Spalt weit offen, Lärm drang ins Freie. Laute der Sünde, Gesang und Gebrüll. Ein unerträgliches Chaos aus Stimmen. Das Klirren prostender Becher, Trampeln und Grölen. Oldrich fühlte sich beschmutzt, noch bevor er zaghaft die Tür aufdrückte.
    Und die Gerüche … Bei Gott, die Gerüche! Schweiß und Wein und süße Substanzen, mit denen die Schankmädchen den Schmutz vom Vorabend übertünchten. Der Kardinal war zutiefst angewidert, als er sah, wie ein verfilzter Straßenköter an einem der vorderen Tische das Bein hob und einem betrunkenen Kerl an die Wade pisste.
    Oldrichs Blick wanderte weiter, stocherte in einer kochenden Suppe aus geröteten, schwitzenden Gesichtern. Verzweiflung wallte in ihm empor. Wie immer ließen ihn seine Augen im Stich bei allem, das weiter als fünfzehn Schritt entfernt war. Wo war der, den er suchte?
    Ein Schemen huschte blitzschnell an ihm vorüber, substanzlos wie der Schatten wehenden Herbstlaubes. Eine Stimme ohne Betonung. »Kommt mit!«
    Der Mann war gewiss keine fünfzehn Schritt entfernt, und doch hatte Oldrich das Gefühl, ihn so verschwommen zu sehen wie die Menschen am anderen Ende des Schankraums. Dabei war er nah genug, um die Finger seiner Hand zu zählen. Aber der Eindruck des Verwischten blieb. Oldrich musste sich zwingen, ihm zu folgen.
    Durch eine Seitentür gelangten sie in einen schmalen Gang aus Bretterwänden. Von der einen Seite wehte der Lärm der Taverne herein, von der anderen der Gestank einer Hinterhoflatrine.
    »Ich weiß, weshalb Ihr hier seid«, sagte der Mann mit dem vernarbten Kehlenschnitt. Er trug einen Mantel mit Kapuze, ungleich edler als jener, unter dem sich Oldrich verbarg. Kein Dieb wäre so verrückt, sich mit ihm anzulegen. Die meisten hier kannten und fürchteten ihn.
    »Natürlich weißt du das«, sagte Oldrich. »Ich habe dir eine Botschaft gesandt.«
    Der Bethanier schüttelte den Kopf. Sein Gesicht lag im Schatten, nur auf den Wulst aus wildem Fleisch an seiner Kehle fiel ein Lichtstreif.
    Der Kardinal sah ihn verständnislos an. Und zutiefst beunruhigt.
    »Ihr seid ganz krank vor verletzter Eitelkeit«, sagte der Mann, der den Tod überlebt hatte. »Ihr redet Euch ein, dass es Euch um Eure kostbare Mutter Kirche geht. In Wahrheit fürchtet Ihr um Euren Einfluss. Ihr erinnert Euch gut an Violante von Lerch, nicht wahr? Wie es aussieht, versteht sie sich noch immer trefflich darauf, andere Menschen zu manipulieren.«
    Oldrich rümpfte die Nase. »Ich bin nicht hier, um mit dir über die Vergangenheit zu reden.«
    Der Bethanier schwieg. Bewegte sich nicht. Oldrich fragte sich, ob er zu weit gegangen war. Man erzählte sich, dass der Bethanier Leben nahm, um sein eigenes zu erhalten. Dass er Menschen die pochenden Herzen aus der Brust riss, um sie zu verschlingen. Dass sie es waren, die ihn bei Kraft hielten.
    Oldrichs eigenes Herz schlug noch schneller.
    Ein Schlitz öffnete sich in den Schatten – es hätte ebenso gut die Wunde an der Kehle statt Lippen sein können. »Wie Ihr wünscht«, flüsterte der Bethanier.
    Warum nur hatte Oldrich das Gefühl, dass der Mann ihn tatsächlich durchschaute? Lag es an den Augen des lebenden Toten? An der unausgesprochenen Drohung in seinem Tonfall?
    Nur an deiner eigenen Angst, redete der Kardinal sich ein. Sie macht dich unsicher, macht dich schwach. Falls Oldrich die Gunst des Papstes verlor – und

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