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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Jüngeren einen kräftigen Schlag gegen den Hinterköpf. »Halts Maul!«, fuhr er ihn an. »Du hast die Befehle gehört.«
    Jannek sah einen Moment lang aus, als würde er den Schlag erwidern, doch dann zuckte er die Achseln und trat seinem Pferd in die Flanken.
    Der ältere Söldner ritt noch immer auf einer Höhe mit ihr, begutachtete sie argwöhnisch und schien zu überlegen, ob er ein paar Worte riskieren konnte. Doch dann riss er nur sein Pferd herum und trabte davon.
    Saga ließ sich seufzend zurück auf die Bank sinken. So würde sie niemals erfahren, wohin die Reise wirklich führte. Sie konnte nur abwarten, bis Violante sie endlich in alles einweihte.
    Aber Violante ließ weitere drei Tage auf sich warten.
    Als die Gräfin endlich zu ihr kam, begann sie mit den Worten: »Es gibt jetzt kein Zurück mehr.«
    »So?« Saga war bemüht, ihre Verunsicherung zu überspielen. Mittlerweile gelang ihr das recht gut.
    »Ich möchte mich bei dir entschuldigen«, sagte Violante sachlich. »Ein Schlag wäre genug gewesen.«
    »Warum lasst Ihr nicht einfach meinen Bruder laufen, und die Sache ist vergessen?«
    Sie lagerten am Fuße hoher Fichten, die sich wie schwarze Türme über den Kutschen und Zelten erhoben. Saga hatte noch nie im Leben ein Gebirge gesehen, aber sie konnte sich schwerlich vorstellen, dass es eines gab, das höher war als diese Bäume. Irgendwo in der Nähe rauschte ein Fluss oder Wasserfall, aber von ihren Fenstern aus konnte Saga ihn nicht entdecken.
    Die Gräfin war ganz unvermittelt vor den Gitterstäben der Kutsche aufgetaucht. Sie trug nicht mehr das prächtige Kleid, in dem sie aufgebrochen war, sondern eine schlichte Reisetracht mit engen Ärmeln, geschnürtem Ausschnitt und einem breiten Gürtel, an dem zu Sagas Erstaunen ein Dolch hing. Ihr hellblondes Haar war streng geknotet, aber sie trug keine Haube, wie es einer Dame auf Reisen geziemte. Die Narbe des Schnabelhiebs unter ihrem linken Auge sah in der Dämmerung tiefer und dunkler aus als zuvor; sie verlieh ihr eine widersprüchliche Aura aus Härte und Verletzlichkeit.
    »Es ist an der Zeit, dir zu erzählen, weshalb du hier bist.«
    Saga sagte nichts und wartete. Violante schob den Riegel beiseite, zog die Wagentür auf und stieg zu ihr in das Gefährt.
    »Du hast gehört, dass mein Gemahl während des letzten Kreuzzugs verschollen ist«, sagte sie, als sie sich Saga gegenüber auf der zweiten Bank niederließ. »Gahmuret … der Graf … er ist nicht von der Eroberung Konstantinopels zurückgekehrt. Aber er ist nicht tot, das weiß ich. Und ich will ihn zurück.«
    Im ersten Moment klang sie wie ein verärgertes Kind, dem man ein Spielzeug weggenommen hatte. Dann aber bemerkte Saga den Unterton tiefer Verzweiflung. Es war, als hätte die Gräfin dieselben Worte schon unter ganz anderen Umständen ausgesprochen, wehklagend und weinend, in Augenblicken höchster Trauer. Und da war noch etwas: eine Verbissenheit, die jede Entgegnung erstickte.
    »Ich bin überzeugt, dass Gahmuret gefangen gehalten wird, irgendwo in den Ländern der Ungläubigen. Und ich werde ihn befreien.«
    »Mit den paar Dutzend Söldnern dort draußen?«, fragte Saga.
    Violante verzog verächtlich die Lippen. »Nein. Mit einer Armee.« So trocken, wie sie es sagte, klang es nicht wie etwas Besonderes. Sie musste schon so viele Male darüber nachgedacht haben, dass der Gedanke für sie zur Selbstverständlichkeit geworden war.
    Saga spürte eine Wut in der Gräfin, die nicht ihr galt, sondern der Welt im Ganzen. Anders als an jenem Abend am Lagerfeuer war Violante nicht in Plauderstimmung. Sie war entschlossen, ihren Willen durchzusetzen. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie hier das Sagen hatte und allein entschied, was zu tun war. Saga war nur ihr Werkzeug, genau wie Zinder, wie all diese Männer dort draußen im Schatten der Fichten.
    »Es war ein Kreuzzug, der mir meinen Mann genommen hat«, sagte Violante. »Und es wird ein Kreuzzug sein, der ihn mir zurückbringt.«
    »Was für ein Kreuzzug?«
    »Dein Kreuzzug, Saga. Deswegen brauche ich dich. Du wirst für mich predigen. Du wirst die Menschen dazu bringen, dir zu folgen – über das Meer hinweg, ins Heilige Land. Zu Gahmuret.«
    Manche glauben, sie hat den Verstand verloren, hörte Saga wieder den Soldaten sagen. Und plötzlich schien das gar nicht weit hergeholt.
    Doch ein Blick in Violantes Augen genügte, und sie wusste, dass es so einfach nicht war.
    »Du bist überrascht«, stellte die Gräfin mit einem

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