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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Sie musste die Lage nehmen, wie sie war, und versuchen, irgendwie am Leben zu bleiben. Faun als Geisel eingesperrt, sie selbst entführt und unterwegs nach … ja, wohin? Wirklich nach Konstantinopel?
    Für Saga war das nicht mehr als ein Name, ein Ort, der so weit entfernt lag von allem, was sie kannte, wie das heilige Jerusalem oder die Himmelspforten selbst. Sie hatte davon gehört, von der verheerenden Schlacht um die Stadt vor … wie vielen Jahren? Sechs? Damals, während des letzten Kreuzzugs, waren die abendländischen Ritter auf ihrem Weg ins Heilige Land dort eingefallen und hatten die Stadt verwüstet. Das Reich Byzanz war gefallen, seine Hauptstadt geplündert, sein Thron von einem der Eroberer aus dem Westen bestiegen worden.
    Die meiste Zeit über saß Saga in Fahrtrichtung auf der Holzbank, zog abwechselnd die Knie an oder legte die Füße hoch und versuchte, die Gesprächsfetzen der Söldner zu belauschen. Kamen zwei, die sich unterhielten, nahe genug heran, rückte sie ans Fenster und tat, als schliefe sie, für den Fall, dass einer hereinblickte. Auf diese Weise erfuhr sie, dass die Männer in einer Stadt gelagert hatten, deren Namen Saga nicht kannte und gleich wieder vergaß; dort hatten sie auf die Ankunft der Gräfin und ihrer Begleitung gewartet, gerade so wie es der Kontrakt verlangte, den Zinder und sie schon vor Monaten ausgehandelt hatten. Dann aber war lange vor dem vereinbarten Tag ein Bote aufgetaucht und hatte Zinder aufgefordert, alles stehen und liegen zu lassen und der Gräfin entgegenzureiten. Der Aufbruch sei vorverlegt worden – Saga kannte die Gründe. Offenbar erhoffte sich Violante von der Söldnertruppe besseren Schutz als von ihren eigenen Soldaten; kein Wunder, dass das ihren Hauptmann verärgert hatte.
    Die Söldner entsprachen dem Bild, das Saga sich schon früher von Männern ihres Schlages gemacht hatte. Sie alle trugen die Abzeichen Dutzender Kämpfe zur Schau: Narben in den Gesichtern, auf den Handrücken und Armen; verbissene Mienen, die sie unnahbar und bedrohlich erscheinen ließen; gestückeltes Rüstzeug, zusammengeplündert auf zahllosen Schlachtfeldern. Manche besaßen verstärkte Lederkleidung und Steppwämser, andere eiserne Brustpanzer, vereinzelt auch Armschienen und Helme. Bis auf eine Hand voll Männer, zu der auch Zinder zählte, waren sie solide, aber selten vollständig ausgerüstet. Der eine mochte Schwert und Dolch besitzen, der andere nur Streitaxt oder Morgenstern. Manche trugen Beinzeug, das nicht zueinander passte, oder gar unterschiedliche Stiefel. Das Haar der meisten war lang, reichte bis über die Schultern. Nicht wenige ließen sich Barte stehen, die eine Handbreit unterm Kinn achtlos mit dem Messer gekürzt, aber nur selten ganz abrasiert wurden.
    Am achten Tag der Reise rief Saga einen von ihnen herbei, als er in die Nähe ihres Fensters kam. »He, du. Komm her.«
    Der Söldner sah sie an, erst abweisend, dann neugierig. Er war jung und hochgewachsen. Im Gegensatz zu vielen seiner Gefährten, von denen manche gewiss schon seit Jahrzehnten dem Kriegerhandwerk nachgingen, hatte er erstaunlich wenig Narben im Gesicht. Er trug eine grünweiß geteilte Gugel mit gezacktem Saum, die Kapuze war zurückgeschlagen. Sein leichtes Kettenhemd war voller Scharten und rostbraun angelaufen. Wahrscheinlich hatte es mehr als einen Vorbesitzer gehabt.
    »Ich tu dir nichts«, fügte sie hinzu. »Du hast doch keine Angst vor mir, oder?«
    Er lachte leise, widersprach aber nicht. Als er von ihr hinüber zu seinen Kameraden blickte, dann zurück zum Fenster, bemerkte sie, dass der erste Eindruck getäuscht hatte. Anstelle eines Ohrs war da nur ein vernarbtes Knorpelding, ein Loch, umgeben von einer hässlichen Fleischwulst.
    »Wie heißt du?«, fragte sie.
    »Ich weiß nicht, ob du hübsch genug bist, um für dich Stockschläge zu kassieren«, erwiderte er spöttisch.
    »Sind die Huren hübscher, die du dir von deinem Sold kaufst?«
    Er grinste, und Saga sah, dass ihm ein Schneidezahn fehlte. »Die letzte war’s jedenfalls.«
    Sie erwiderte sein Lächeln.
    »Jannek«, sagte er mit spöttischer Verbeugung.
    »Ich bin Saga.«
    »Die Magdalena, was?« Er fuhr sich durchs Haar. Es war hellblond und wucherte wild in alle Richtungen.
    Die Magdalena. Da war es wieder.
    »Woher hast du das?«, fragte sie.
    »Das mit der Magdalena? Alle sprechen davon. Du sollst eine Heilige sein, sagen manche.«
    Ein älterer Söldner lenkte sein Pferd neben Janneks und versetzte dem

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