Herrin der Lüge
jenseits des Lerchberges. Faun vermutete, dass die meisten Menschen in den Hütten längst schliefen. Noch immer hing ein schwacher Duft nach Eintopf in der Nachtluft, der von irgendwoher über die Dächer trieb, aber es gab kaum Geräusche außer dem vereinzelten Scharren und Schnauben von Tieren in ihren Umzäunungen. Mit der Schlafenszeit legte sich Stille über das Dorf.
Allmählich entspannte er sich ein wenig, lehnte sich zurück und blickte durch das Balkengerippe hinauf in die Nacht.
Die Entscheidung, was er als Nächstes unternehmen wollte, hatte er längst getroffen. Er hätte seiner Familie folgen können, aber diese Möglichkeit schied aus, noch während sie ihm in den Sinn kam. Er musste versuchen, Saga einzuholen. Die Gräfin hatte sie verschleppt, aus welchen Gründen auch immer, und er würde sie gewiss nicht einfach aufgeben, so wie sein Vater es mit ihnen beiden getan hatte.
Hundert Erinnerungen geisterten ihm durch den Kopf, Momente im Leben eines Zwillingspaares, das niemals länger als ein Paar Stunden voneinander getrennt gewesen war. Sie mochten in zahllosen Dingen völlig unterschiedlich sein, und doch war da etwas zwischen ihnen, das sich nicht einfach lösen ließ. So als wäre da noch immer ein unsichtbares Band, das bei ihrer Geburt nicht durchschnitten worden war. Er stellte sich nicht die Frage, ob er sie suchen sollte. Vielmehr fragte er sich, wie.
Er besaß kein Geld, und er wurde von der Obrigkeit verfolgt. Nach ein, zwei Tagesmärschen war er wahrscheinlich außer Gefahr, schließlich war er nur ein Dieb, kein Mörder. Doch änderte das nichts an seiner Sorge, nicht schnell genug zu sein. Wie waren die Gräfin und Saga gereist? In Kutschen? Gar auf Pferden? Wie sollte er je einen Vorsprung von zehn Tagen aufholen, zu Fuß und völlig mittellos?
Wieder kamen ihm die Worte des Burgwächters in den Sinn. Sie reisen nach Mailand, sagen die Leute.
Italien. Er würde Wochen dorthin brauchen. Vielleicht Monate.
Und obwohl die Weite des Weges ihm unermesslich erschien, erfüllte ihn allein der Gedanke an ein Ziel mit Zuversicht. Er nahm sich vor, nur ein wenig auszuruhen und sich noch in dieser Nacht auf den Weg zu machen. Er durfte keine Zeit verschwenden. Im Dunkeln konnte er die Straßen benutzen. Selbst wenn Soldaten die Wege überwachten, gelang es ihm in der Finsternis womöglich, sie zu umgehen.
Die zahllosen Kratzer und Schürfwunden umwoben seinen Körper mit einem feinen Gespinst aus Schmerz. Zuletzt aber konnte auch das den Schlaf nicht von ihm fern halten.
Als er wieder erwachte, war es heller Tag.
Nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte, erkannte er, was ihn geweckt hatte.
Schreie.
Irgendwo dort draußen schrie ein Mensch unter Todesqualen; Faun wagte sich nicht ins Freie. Auf allen vieren kroch er aus seinem Versteck im hinteren Teil der Ruine nach vorn zum Eingang. Der Schuppen hatte keine Tür mehr, nur zwei mannshohe Balken zu beiden Seiten der Öffnung, an die die Reste der hölzernen Außenwände grenzten. Wenn er tief genug unten blieb, konnte ihn vom Weg aus niemand sehen.
Seine Vorsicht erwies sich als unnötig. Dort draußen war niemand. Der abgebrannte Schuppen lag nah am Waldrand, die nächsten Häuser standen einen halben Steinwurf entfernt. Die Gebäude grenzten an die Dorfstraße, aber auch sie war verlassen. Stimmengewirr, aufgebrachte Rufe und immer wieder die peinvollen Schreie eines Mannes drangen vom Marktplatz herüber. Von hier bis dorthin mussten es gut zweihundert Schritt in gerader Linie sein, vielleicht sogar mehr. Alle Einwohner, die um diese Tageszeit nicht bei der Feldarbeit waren, mussten sich dort versammelt haben, um den Qualen des Mannes zuzuschauen; vor allem Alte und kleine Kinder. Wahrscheinlich war im Morgengrauen jemand an den Pranger gestellt worden. Die Dorfbewohner mussten ihm gehörig zusetzen, so wie er brüllte.
Das alles war nicht Fauns Problem. Er ließ sich mit dem Rücken gegen die Holzwand sinken und ärgerte sich über sich selbst. Wie hatte er nur einschlafen können! Bei Tageslicht war es zu gefährlich, die Straße nach Süden zu nehmen. Nun würde er einen weiteren Tag verlieren, während er hier saß und auf die nächste Dunkelheit wartete.
Die Schreie brachen für eine Weile ab, um dann erneut zu beginnen. Gott, was taten diese Leute da nur? So brüllte doch niemand, der mit verfaulten Eiern oder Pferdeäpfeln beworfen wurde.
Faun führte die Hand zur linken Wange und rieb sich die Backenzähne. Er
Weitere Kostenlose Bücher