Herrin der Lüge
keine wilden Rufe, Drohungen und Flüche in den Wäldern. Fast sah es aus, als hätte er seine Verfolger abgehängt.
Es wurde noch nicht dunkel, aber die Sonne stand bereits tief hinter den Wipfeln. Schatten nagten vom Boden her an den Hütten. Ganz kurz dachte er, dass irgendetwas mit dem Licht nicht stimmte, die eine Seite des Himmels war zu hell, die andere zu dunkel. Warum ging die Sonne linker Hand unter, nicht rechts von ihm? Aber er war noch immer zu verwirrt, um mehr als einen Gedanken daran zu verschwenden. Hätte ihm die Sonne aus einem Maulwurfsloch entgegengelächelt, wäre ihm auch das einerlei gewesen. Er hatte Schmerzen, er hatte Hunger, er musste endlich ausruhen.
Langsam, dann ein wenig entschlossener bewegte er sich vorwärts, den ganzen Körper angespannt, jederzeit bereit, in die Hocke zu gehen und sich im hohen Gras am Wegrand zu verbergen. Die Häuser rückten näher, und aus dem Schatten vor dem gegenüberliegenden Waldrand schälten sich noch einige Dächer mehr.
Er hörte Stimmen, harmloses Gerede hinter Holz- und Mauerwänden, dazwischen das Meckern von Ziegen, grunzende Sauen, Hühnergackern. Es roch nach Schweinetrog und Misthaufen. Bald entdeckte er, dass zwischen den Häusern eine breitere Straße verlief, die tiefer in das Gewirr einer weitläufigen Ansiedlung führte. Das hier war kein Gehöft, auch kein armseliger Weiler, sondern ein großes, dicht bewohntes Dorf voller Menschen.
Noch etwas entdeckte er, viel zu spät, um kehrtzumachen.
Hinter den Dächern und einem weiteren Streifen Wald erhob sich eine Felswand wie eine steingewordene Flutwelle, braun und zerklüftet. Und auf diesem Felsen, hoch droben unter dem leuchtenden Sommerabendhimmel, standen Mauern, Dächer, ein Bergfried und Türme.
Da begriff er, wo er gelandet war.
Er war im Kreis gelaufen, ein meilenweiter Kreis, bei dem der Anfang wie ein Schatten über dem Ende lag. Die Festung dort oben war Burg Lerch, die Felswand die andere Seite des Lerchbergs. Und dieser Ort, dieses Dorf voller Menschen, die ihn jeden Moment entdecken und packen und fortschleifen mochten, war die größte Ortschaft der Gegend, das Stammdorf derer von Lerch und der Gräfin treu ergeben.
Faun warf sich herum und rannte. Aber nicht weit. Dann dachte er an Wasser, an Nahrung, an ein paar Stunden Ruhe. Das vor allem.
Stundenlang hatte er sich für nichts und wieder nichts durch das Dickicht gekämpft, und nun war er wieder dort, wo alles begonnen hatte. Er brauchte nur den Kopf zu heben, und er sah Burg Lerch dort oben thronen. Die Festung schien die ganze Welt zu beherrschen.
Wie lange würden die Soldaten nach ihm suchen? Möglich, dass sie die Verfolgung längst aufgegeben hatten. Der Grafensohn schien nach dem Eklat mit dem Burgvogt das Interesse an seinem Gefangenen verloren zu haben. Faun bezweifelte, dass sie ihn einfach laufen ließen, aber sogar das war eine Möglichkeit.
Fühl dich nur nicht zu sicher, warnte ihn eine innere Stimme.
Vorsichtig umrundete er die Häuser im Schutz des Waldrandes. Danach wusste er, welcher Weg um den Berg herum hinauf zur Festung führte und welche anderen Pfade es gab, über die Soldaten ins Dorf gelangen konnten. Er fand keine Anzeichen für Wachmannschaften. Nichts deutete darauf hin, dass sich die Männer und ihre Hunde in der Nähe befanden.
Sein Entschluss war schnell gefasst. Er rührte nicht so sehr daher, dass er sich bewusst entschied. Vielmehr übermannten ihn Müdigkeit und Hunger und die Sinnlosigkeit einer Flucht, die ihn doch nur zurückgeführt hatte. Er musste ausruhen, und vielleicht gelang es ihm sogar, aus einem der nahen Häuser einen Laib Brot oder etwas Milch zu stehlen.
Er fand einen halb verfallenen Schuppen nahe am Waldrand, der ihm für kurze Zeit als Versteck dienen mochte. Das Dach war irgendwann einmal abgebrannt und nie neu errichtet worden.
Lange nach Einbruch der Dunkelheit saß Faun kauernd in der dunklen Stallruine. In seinem Magen rumorte es, nicht mehr vor Hunger, sondern weil er dem Frieden nicht traute und er jeden Augenblick mit seiner Entdeckung rechnete. Er hatte sich im hintersten Winkel des Schuppens verkrochen, zwischen hohem Unkraut und pilzbewachsenen Balkenresten.
Wolken waren während der Dämmerung aufgezogen, und jetzt war der Himmel pechschwarz. Keine Sterne waren zu sehen, nur der Halbmond leuchtete fahl hinter milchigem Dunst. Die Dorfbewohner hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen, erschöpft von der Arbeit im Wald und auf den Feldern
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