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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Stück Wiese hinweg und tauchte ins Dunkel des Waldes. Dichtes Unterholz sog ihn auf, peitschte sein Gesicht und tastete nach all seinen Gliedern. Die Dunkelheit umfing ihn schlagartig und mit erstaunlicher Konsequenz: Das Tageslicht blieb zurück, er wurde eins mit den Schatten, eins mit dem unwegsamen Dickicht. Berstende Zweige und raschelndes Laub waren überall. Seine Verfolger mochten schon ganz nah sein, um ihn herum, auf allen Seiten. Aber das Hundegebell klang gedämpfter als zuvor, und er dachte halb betäubt, dass die Tiere es schwer haben würden, seine Spur aufzunehmen, nachdem er aus dem Wasser gekrochen war und vermutlich nach Algen und Fäulnis stank, nicht aber nach menschlicher Beute.
    Er sah seine eigenen Füße nicht mehr, stolperte und fiel hin. Rappelte sich hoch, taumelte weiter, wehrte sich mit Armen und Beinen gegen den Griff des Waldes. Bald verlor er jedes Gefühl für die Richtung, lief einfach so gut es ging bergab, denn so entfernte er sich am schnellsten von Burg Lerch und seinen Verfolgern. Das Gebell jaulte durch die Wälder wie durch das Innere einer Kirche, hallend und verzerrt, zurückgeworfen und vielfach verstärkt.
    Irgendwann kam er an einen felsigen Einschnitt im Bergrücken, kletterte, sprang und stürzte hinab, folgte dann dem Verlauf, bis er einen Bachlauf erreichte. Er hörte jetzt nur noch seinen eigenen Atem, Hecheln wie von einem Tier in Panik, durchsetzt von dem viel zu schnellen Wummern seines Herzschlags. Falls da andere Laute waren – die Hunde, das Geschrei der Soldaten –, dann wurden sie von den Geräuschen in seinem Inneren übertönt.
    Es war verlockend, in den Bach zu springen und ihm zu folgen, damit er den Bluthunden keine Fährte bot. Aber er fürchtete, dass der Grund ebenso schlammig war wie der des Burggrabens und dass er viel zu langsam vorankommen würde. So watete er nur zur anderen Seite, fand seine Befürchtung bestätigt und zog sich an Wurzeln ins Trockene. Hier war das Unterholz ein wenig lichter und machte das Laufen einfacher.
    Wann er zum ersten Mal stehen blieb, den Oberkörper vorgebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, wusste er später nicht mehr. Vor Anstrengung übergab er sich, spie Grabenwasser und Galle ins Farnkraut, versuchte Luft zu holen, atmete seinen eigenen Gestank ein und erbrach sich erneut.
    Stunde um Stunde lief er weiter. Die meiste Zeit über blieb er im Schutz des verwobenen Unterholzes, zerkratzt, aber noch immer ohne Brüche oder verrenkte Gelenke, was an sich schon ein Wunder war. Er hatte von Fluchten wie dieser gehört, in ausgeschmücktem Gauklergarn, das sich die Spielleute untereinander erzählten. Aber immer hatten alle nur mit ihren Verfolgern zu kämpfen gehabt, niemals mit dem Land an sich, das immer stärker darauf beharrte, dass er stehen blieb, sich hinwarf und vom Dickicht verschlungen wurde, aufgezehrt wie ein Tierkadaver.
    In diesen Stunden lernte er den Wald zu fürchten. Nicht wie früher wegen der Gefahr durch Wegelagerer oder hungrige Tiere, sondern allein aufgrund dessen, was die Bäume, Sträucher und Disteln ihm antaten. Alles an ihm schmerzte von Prellungen und Kratzern, und wo seine Haut noch unversehrt war, da brannte sie wie Feuer von den buschigen Brennnesseln, durch die er sich kämpfen musste. Er schwor sich, wenn er je lebend hier herauskäme, würde er nie wieder einen Fuß unter Bäume setzen, nie wieder in seinem ganzen Leben. Aber er ahnte auch, wie viel solche Schwüre erst galten, wenn man in Sicherheit war und die Vernunft allmählich zurückkehrte, wenn dies alles selbst eine Gauklergeschichte unter vielen geworden war, zum Besten gegeben am Lagerfeuer, begleitet vom Klang einer Trommel oder leisem Flötenspiel jenseits der Flammen.
    Weiter lief er, immer weiter.
    Irgendwann endete der Wald. Faun bemerkte es erst, als er bereits ins Freie stolperte. Zu seiner Linken war ein Zaun, daneben ein festgetrampelter Pfad, zerfurcht von tiefen Karrenspuren. Am Ende des Weges lagen Häuser und gedrungene Hütten, mit Reisig gedeckt, aber von gemauerten Kaminen überragt. Hier lebten Menschen. Faun war nicht sicher, ob das gut war oder schlecht.
    Sein Zustand war erbärmlich, aber nicht schlimm genug, um aufzugeben. Ein Bad – ein warmes, vorzugsweise –, ein paar Salben oder zerstoßene Kräuter für die Schrammen, dazu eine Brühe mit Fettaugen. Danach würde es ihm besser gehen.
    Er blieb stehen und horchte in die Ferne. Nichts war zu hören, keine Hundemeute auf seiner Spur. Auch

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