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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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    Faun entspannte seine Muskeln. Er sank wieder tiefer ins Farn, wartete ab und beobachtete.
    Die Gestalt huschte über den Wiesenstreifen zwischen dem Wald und den vorderen Häusern, verschwand im Schatten kurz aus seinem Blickfeld und tauchte unweit des Prangers wieder auf. Dort blieb sie stehen und schaute sich angespannt um. Dann erst legte sie die letzten Schritte bis zu dem Gefangenen zurück. Aus seinem Versteck beobachtete Faun mit angehaltenem Atem, wie die Gestalt eine Hand nach dem Mann am Pranger ausstreckte. Der Körper des Gefangenen bewegte sich nicht.
    Faun holte scharf Luft. Wieder war er versucht, einfach umzudrehen und in den Wäldern zu verschwinden. Er hatte alles, was er benötigte. Verpflegung, ein Ziel, den Schutz der Dunkelheit.
    Trotzdem blieb er zwischen den Farnwedeln hocken und wartete ab, was weiter geschah.
    Die Gestalt streifte ihre Kapuze zurück. Im Fackelschein wurde das schmale Gesicht eines Mädchens sichtbar. Ihre Wangen und Stirn glänzten, sie stand unter ungeheurer Anspannung.
    Sie hatte ihr blondes Haar streng zurückgebunden, wahrscheinlich zu einem Zopf, den sie unter dem Wams verbarg. Ihre Kleidung sah aus, als lebte sie schon länger im Freien. Nur ihr Gesicht war sauber und makellos, was in einem absonderlichen Gegensatz zu ihren schmutzigen Sachen stand.
    Trotz allem wirkte sie nicht halb so verwahrlost wie Faun, dem schlagartig bewusst wurde, wie nötig er ein Bad und frische Kleider hatte.
    Abermals schaute sie sich um, bevor sie noch einmal einen Schritt nach vorn machte und den Soldaten berührte. Faun war nicht sicher, ob das Keuchen, das er hörte, von ihr oder dem reglosen Mann am Pranger kam.
    Verschwinde von hier!, wollte er ihr zurufen. Irgendwer wird dich entdecken. Und mich gleich mit!
    Langsam erhob er sich, schob die Farnwedel auseinander und trat ins Freie. Vor dem grobschlächtigen Foltergerät sah sie noch verletzlicher aus. Aber es waren weniger Beschützerinstinkte, die sich in ihm regten, als vielmehr völlige Fassungslosigkeit. Am liebsten hätte er sie bei den Schultern gepackt und durchgeschüttelt.
    Herrgott, was tat sie denn jetzt!
    Das Mädchen kniete sich vor dem blutüberströmten Mann auf den Boden nieder, als befände sie sich in einer Kirche. Sie schlug ein Kreuzzeichen, faltete die Hände und senkte den Kopf in stiller Andacht.
    Irgendwo schepperte eine Tür. Stimmen ertönten.
    Das Mädchen rührte sich nicht vom Fleck.
    Faun trat nervös auf der Stelle. Die Häuser waren im Weg, er konnte nicht sehen, ob jemand näher kam. Aber ihm war, als würden die Stimmen lauter.
    Wenn das Mädchen nicht aus dem Ort war – und nach einem zweiten Blick auf ihre zerissene Kleidung zweifelte er daran keine Sekunde –, würden die Dorfbewohner sie schnappen und die Gegend nach weiteren Herumtreibern absuchen. Irgendjemandem würde auffallen, dass Essen aus den Häusern gestohlen worden war, und in Windeseile würden sie eine regelrechte Treibjagd auf die Diebe veranstalten.
    Ein Pochen ertönte. Nicht weit entfernt wurde an eine Tür geklopft, gefolgt von undeutlichen Rufen. Faun verstand ein paar Wortfetzen. Wieder kamen Stimmen näher, diesmal rascher als zuvor.
    Das Mädchen schaute über die Schulter, blieb aber auf den Knien hocken. Faun sah, dass sich ihre Lippen schneller bewegten. Sie wollte ihr Gebet zu Ende bringen.
    Er gab sich einen Ruck und rannte los.
    »He!«, rief er gepresst, während er geduckt auf sie zueilte. »He, du!«
    Sie schaute erschrocken auf, und im selben Moment wurde ihm klar, was sie auf sich zukommen sah: eine verwahrloste Gestalt aus den Wäldern, übersät mit getrocknetem Blut und Dreck, zum Himmel stinkend, weil er seit Wochen die Kleider nicht mehr gewechselt hatte. Sein einstmals geschorenes Haar war dunkelbraun nachgewachsen und stand schmutzverkrustet in alle Richtungen ab. Er konnte nicht mehr viel Ähnlichkeit mit seinem früheren Ich haben.
    Mit einem Satz war sie auf den Füßen und blickte sich lauernd um.
    »Nicht!«, warnte Faun mit einem unterdrückten Ruf. »Du wirst das ganze Dorf aufwecken!«
    Rechts von ihnen johlten Stimmen. Es klang, als ob die Männer betrunken waren. Drei, schätzte er, vielleicht vier. Sie mussten auf einem der Seitenwege näher kommen, sonst hätten sie Jas Mädchen längst bemerkt.
    »Ich tu dir nichts«, sagte er und konnte sich in etwa vorstellen, wie diese Worte aus seinem Mund klangen. Falls sie ihn überhaupt als Mensch erkannte, glaubte sie wahrscheinlich, er

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