Herrin der Lüge
war ungünstig, er sah den Gefangenen von hinten. Der Mann trug ein knielanges, mit Blut und Schmutz verkrustetes Wams. Seine Beine waren nackt, er trug kein Schuhwerk.
Kaum noch verständlich flehte er um Erbarmen. Es waren die ersten Worte, die Faun aus seinem Mund hörte. Und diesmal schwanden alle Zweifel. Er kannte die Stimme.
Fauns Körper versteifte sich. Hitze jagte sein Rückgrat entlang und setzte sich als pochender Schmerz in seinem Schädel j fest. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Mit einer Hand stützte er sich zwischen den Farnbüscheln ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Das ist nicht gerecht, durchfuhr es ihn. Nicht er!
Ein wütender Schrei stieg in ihm auf. Er biss die Zähne so fest aufeinander, bis ihm vor Schmerz fast schwarz vor Augen wurde. Immerhin ließ ihn das nach einer Weile klarer denken.
Nicht er, hallte es noch einmal in seinem Schädel nach, ein Echo seiner eigenen Fassungslosigkeit.
Es war der Soldat, der ihn hatte laufen lassen. Der Mann aus dem Wachturm. Die Wächter auf der anderen Seite der Tür mussten gehört haben, was er zu Faun gesagt hatte. Oder jemand hatte einfach nur die richtigen Schlüsse gezogen. Was immer der Grund war – man hatte ihn zum Pranger verurteilt, und dass seine Verletzungen ihn umbringen würden, schien niemanden zu kümmern.
Er hat gewusst, auf was er sich einlässt, redete Faun sich Er musste es doch wissen! Er hat einen Gefangenen laufen lassen.
Aber was er auch versuchte, um sich zu beruhigen, nichts davon fruchtete. Schließlich löste er sich von dem Anblick des leidenden Mannes und zog sich ein gutes Stück tiefer in den Wald zurück. Am Grund einer niedrigen Senke, im Schatten eines Findlings und einer mächtigen Eiche, ging er in die Hocke. Er hasste sich für seine Unbekümmertheit während der Flucht über die Zinnen, hasste sich sogar dafür, dass ihm jetzt die Tränen über die Wangen liefen wie einem kleinen Kind. Nichts half, nichts rettete dem Mann am Pranger das Leben.
Vielleicht, wenn es dunkel wurde … Vielleicht konnte er sich dann ins Dorf stehlen und versuchen, den Soldaten zu befreien.
Du weißt, dass er dann tot sein wird, wisperte es in ihm. Wie lange kann er wohl leben, mit einem Stück Eisen im Leib und Gott weiß welchen anderen Verletzungen?
Verloren starrte er auf das Bündel mit der gestohlenen Verpflegung. Auch wenn er kaum Chancen hatte, er schuldete dem Mann wenigstens den Versuch.
Als die Dunkelheit aus dem Unterholz kroch und die Nacht wie schwarzer Nebel durch das Blätterdach wehte, machte Faun sich auf den Weg zurück zum Dorf. Mehr als einmal ließ ihn das verwobene Dickicht stolpern, und danach verharrte er still in der Finsternis, wartete auf Hundegebell oder Alarmrufe hinter den Bäumen. Aber niemand rechnete mit einem Fremden, der durch die Nacht heranpirschte. Das hier war ein Bauerndorf, keine Festung.
Zu beiden Seiten des Prangers brannten Fackeln. Wahrscheinlich hatten ein paar späte Heimkehrer von den Feldern sie entzündet, um ihre grausamen Scherze mit dem Gefangenen zu treiben. Jetzt aber war niemand mehr zu sehen. Der Soldat hing leblos in seinen eisernen Fesseln. Seine Knie waren eingesunken, Genick und Handgelenke hielten sein ganzes Gewicht.
Er ist tot!, schoss es Faun durch den Kopf. Du kommt zu spät! Dreh um, du kannst ihm nicht mehr helfen!
Auf dem kleinen Marktplatz rührte sich nichts, nur die flackernden Flammen schufen Bewegungen auf den Fassaden der nahen Häuser. Hinter den Holzläden einiger Fenster tanzte Kerzenschein in schmalen Ritzen, aus manchen Richtungen drangen Wortfetzen wie geisterhaftes Flüstern. Es gab keine Wächter, was ein weiteres Indiz dafür sein mochte, dass der Gefangene nicht mehr lebte.
Ich muss wenigstens sichergehen, dachte Faun. Das ist das Mindeste, was ich für ihn tun kann. Und für mich.
Als er sich gerade vorwärts bewegen wollte, regte sich etwas im Unterholz, nicht weit von ihm. Zwanzig Schritt weiter links, wo der Waldrand einen leichten Bogen machte und sich um die Flanke des Dorfes schmiegte, brach die Dunkelheit auf wie eine Blüte aus Schattenblättern und spie eine Gestalt ins Freie.
Sie war nicht sehr groß und sehr schlank, in engem Beinkleid, und verbarg Kopf und Gesicht unter einer Kapuze, die sie weit über die Stirn gezogen hatte.
Sein Sohn!, dachte Faun unwillkürlich. Oder jemand anderes, der ihm nahe steht. Wer sonst würde versuchen, im Schutz der Nacht heimlich in die Nähe des Gefangenen zu
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