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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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spürte, wie sich einer von ihnen bewegte, und sofort stach Schmerz wie von einer glühenden Nadel in seinen Kiefer.
    Er kannte sich ein wenig aus in solchen Dingen. Sein Vater verstand sich wie viele Gaukler auf die Zahnbrecherei, und in manchen Orten waren sie deswegen weitaus herzlicher empfangen worden als wegen ihrer Musik und Gaukeleien. Ein Stück Schnur war in seinem Fall das beste und einfachste Mittel, der Zahn saß wahrscheinlich lose genug. Sich selbst mit einer Klinge das Zahnfleisch aufzuschneiden, wurde er nicht fertig bringen.
    Jubel brandete jenseits der Häuser auf, gefolgt von Gelächter und neuerlichem Geschrei. Faun lief ein Schauder über den Rücken. Das dort draußen hätte ebenso gut er selbst sein können. Noch war er nicht außer Gefahr. Die Angst vor Entdeckung lag wie eine Halskrause aus Stein auf seinen Schultern.
    Vielleicht waren die Qualen des armen Kerls auf dem Marktplatz zumindest zu einem gut: Die Menschen im Dorf waren abgelenkt. Er konnte die Gelegenheit nutzen, um Vorräte für seine Flucht zu besorgen. Die meisten Häuser standen wahrscheinlich leer, das Spektakel einer öffentlichen Bestrafung ließ sich niemand entgehen.
    Mit klopfendem Herzen und dem Gefühl, kaum durchatmen zu können, verließ Faun die Ruine. Tief gebeugt lief er durch hohes Gras. Gestern Nacht hatte er Brot und Milch aus einem Haus am anderen Ende des Dorfes gestohlen, heute wollte er sich nicht ganz so weit von seinem Versteck fortwagen. Die Schreie waren ihm Warnung genug.
    Einige Häuser hatten Fenster, die mit dünnen Häuten bespannt waren, andere standen vollständig offen; die Bretter, mit denen sie bei Nacht oder schlechtem Wetter geschlossen wurden, nahmen die Bewohner an schönen Sommertagen wie diesem heraus. Faun kletterte in eine der Hütten, fand vor dem Herdfeuer ein gerupftes Huhn, ein paar Laibe Brot und Gemüse vom Vortag. Er gab Acht, von allem nur ein wenig zu nehmen; das Huhn rührte er nicht an.
    Im zweiten Haus stahl er ein ledernes Bündel, sonst nichts. Im dritten bediente er sich vom Brot und Kohl und nahm auch ein wenig getrocknetes Fleisch. Zuletzt fand er einen Schlauch mit Wein, eine kleine Kostbarkeit, von der er ein paar Schluck probierte und den Rest zurücklegte.
    Während seines Diebeszuges durch die verlassenen Hütten des Dorfes brachen die Schreie immer wieder ab, um dann nach kurzer Pause erneut einzusetzen. Irgendwann würden die Menschen das Interesse an ihrem Opfer verlieren und in ihre Behausungen zurückkehren. Grausamkeit war nicht endlos unterhaltsam.
    Faun musste verschwinden, zurück in sein Versteck am Waldrand. Er war bereits auf halbem Weg, als er verharrte und zum ersten Mal wirklich auf das Wimmern des Verurteilten horchte.
    Die Stimme kam ihm bekannt vor. Sie war verzerrt vom Leiden und der Erschöpfung, und er mochte sich täuschen. Trotzdem stutzte er.
    Rasch rief er sich seinen Erkundungsgang von gestern Abend ins Gedächtnis. Die vom Burgfelsen abgewandte Seite des Marktplatzes war nicht weit entfernt vom Waldrand. Wenn er sich dort im Unterholz versteckte, konnte er vielleicht zwischen zwei Häusern hindurch einen Blick auf den Pranger riskieren.
    Er versuchte, seinen Zahnschmerz nicht zu beachten, und änderte die Richtung. Geduckt schlich er zwischen den Hütten hindurch zu den vorderen Bäumen. Das Dorf war fast vollständig von Wald umgeben, nur zur Felswand des Lerchberges hin wucherte kein Dickicht. Faun huschte von Baumstamm zu Baumstamm, verharrte immer wieder, beobachtete die Umgebung und vergewisserte sich, dass ihn niemand bemerkte.
    Schließlich ging er zwischen hüfthohen Farnen in Deckung und schaute zum Markt. Es handelte sich eher um eine Kreuzung, an der die Dorfstraße auf mehrere schmale Wege traf, als um einen echten Platz. Der Pranger war eine wuchtige Holzkonstruktion. Rostige Eisenringe hielten den Verurteilten daran test. Die Zuschauer bewarfen den Mann mit Dreck und Fäkalien, verhöhnten ihn und machten sich einen besonderen Spaß daraus, ihn mit glühenden Eisenstäben zu malträtieren. Faun bebte vor Abscheu, als er sah, wie ein kleiner Junge, kaum sechs oder sieben Jahre alt, dem Gefangenen einen langen Zimmermannsnagel in eine offene Wunde in der Seite schob. Ein paar Erwachsene feuerten ihn an, während andere sich abwandten. Der Mann am Pranger schrie heiser auf, kaum mehr als ein gemartertes Krächzen.
    Der Junge rannte eilig zurück zu seiner Großmutter, die ihn am Ohr packte und davonschleifte.
    Fauns Position

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