Herrin der Lüge
markerschütterndes Kreischen ertönte, mehrere Stimmen durcheinander. Poltern. Tumult. Dann ein Fauchen wie von einer Katze, ein bedrohliches Zischen. Viele dumpfe Schläge hintereinander.
Stille.
Ein hektisches Rascheln, ähnlich einem Hund, der sich die Flöhe aus dem Pelz kratzt. Dann wieder Schweigen.
Maria war wie betäubt. Sie konnte kaum noch stehen, trotz der Hauswand in ihrem Rücken. Sie war erst neun, noch ein Kind. Aber sie ahnte, was die Laute zu bedeuten hatten. Sie wollte sich zusammenkauern, die Knie anziehen, den Kopf unter den Armen verbergen. Die Augen schließen und einfach nirgends mehr hinsehen. Seh ich ihn nicht, sieht er mich nicht.
Aber das war Kinderkram. Nur Einbildung, nicht die Wahrheit. Die Geräusche im Stall – sie waren wirklich gewesen. So wie die Gefahr, in der sie schwebte.
Irgendetwas musste sie tun.
Mit steifen Gliedern setzte sie sich in Bewegung. Kaum gelenkiger als eine der Holzfiguren, die ihr Vater manchmal am Feuer schnitzte.
Mit jagendem Atem erreichte sie die Rückseite des Haupthauses. Die Mauern waren aus gebrannten Lehmziegeln, das tiefe Dach mit Stroh gedeckt. Die wenigen Fenster waren klein und mit hölzernen Läden abgedichtet, die nur selten herausgenommen wurden. Maria blickte an der Rückwand entlang. An ihrem Ende, jenseits der Schneise, konnte sie den Eingang des Stalls erkennen. Das hölzerne Tor stand offen. Sie befand sich zu weit seitlich des Spalts, um hineinblicken zu können. Trotzdem war ihr, als wäre da Bewegung im Inneren. Vielleicht nur die Schweine.
Vielleicht auch er.
Niemand sprach. Kein Tumult mehr.
Sie wusste, was das bedeutete, und wollte es doch nicht wahrhaben. Mit rasselndem Atem taumelte sie an der Rückseite des Hauses auf den Stall zu. Links von ihr befand sich offenes Marschland, verborgen hinter Nebelschwaden. Wenn jetzt jemand aus dem Stall trat, musste er sie unweigerlich entdecken. Aber das war ihr egal. Einen Moment lang.
Gerade lange genug, um das Tor zu erreichen und hineinzuschauen.
Im Dämmerlicht der Scheune war alles voller Blut. So war es immer an Schlachttagen.
Ihre ganze Familie lag mit verrenkten Gliedern am Boden. Nicht alle Arme und Beine waren, wo sie hingehörten.
Der Fremde schleifte gerade den kleinen Luca an den Haaren neben seine Eltern. Michele war schon bei ihnen.
In den Schatten erhob sich plötzlich wildes Geschrei, dann raste etwas aus der Dunkelheit auf Maria zu.
Ein panisches Schwein jagte an ihr vorbei durch das Tor. Sie warf sich zur Seite und entging haarscharf dem Blick des Mannes. Zwei weitere Schweine folgten dem ersten. Jene, die ihr Vater bereits getötet hatte, lagen unweit der Menschenleichen, ebenso reglos und halb ausgeblutet.
In Maria schrie alles danach, davonzulaufen. Aber sie konnte nicht mehr rennen. Etwas zog sie zurück zum Torspalt, eine unsichtbare Kette. Etwas in ihr hatte sich geschlossen wie eine Tür. Keine Panik mehr, keine Trauer. Nur ein letztes Mal wollte sie hinsehen.
Der Fremde hatte ihr den Rücken zugewandt. Er hockte vornübergebeugt zwischen den Leichen und arbeitete mit präziser Leidenschaft. Maria sah das silbrige Metall der Axt aufblitzen. Plötzlich riss der Mann den Arm in die Höhe. In einer Hand hielt er etwas, das aussah wie ein dunkelroter Apfel. Vielleicht war es wirklich einer, denn der Mann drehte sich jetzt ein wenig, sodass Maria sein Profil sehen konnte, und biss hinein. Sie sah seine Augen, schmale Sicheln voller Weiß, als hätten sich die Pupillen ekstatisch nach oben verdreht. Er blickte jetzt genau auf Maria, die zitternd im offenen Tor stand. Aber weil sein Blick nach innen gerichtet war und nur Weiß unter seinen Lidern glänzte, entdeckte er sie nicht.
Über seine Kehle verlief eine wulstige Narbe.
Ein Stöhnen raspelte über Marias Lippen, als sie erkannte, in was er da gerade hineinbiss.
Der Mann riss die Hand mit dem Herzen zurück, ließ es fallen und sprang taumelnd auf die Füße. Blut war in seine Augen gespritzt. Ehe er es fortgewischt hatte, war Maria bereits davongelaufen. Sie rannte wie noch nie in ihrem Leben, den Weg zurück, den sie gekommen war, vorbei an der Rückwand des Haupthauses. In der Ferne, jenseits des Gehöfts, schälten sich vage die Umrisse der buckligen Bäume aus dem Nebel.
Komm zu uns, flüsterten sie. Wir verraten dich nicht. Wir sind deine Freunde.
Sie schaute nicht zurück. Er folgte ihr, ganz bestimmt sogar. Und sicher war er schneller als sie, so viel schneller. Trotzdem rannte sie, aber
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