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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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nicht einmal einen Hügel geschenkt habe. Nichts, das im Sommer Schatten und im Winter Schutz vor den eisigen Winden spendete.
    Die neunjährige Maria, die mit ihren Eltern und Geschwistern den abgelegenen Hof inmitten der Ebene bewohnte, hatte noch nie einen Berg gesehen. Sie hatte in Predigten davon gehört – sie wusste, dass Noahs Arche auf einem gestanden hatte –, aber sie konnte sich keine rechte Vorstellung davon machen.
    Der Gedanke, etwas könne die Welt überragen, höher als der Kirchturm des Klosters, eine halbe Tagesreise von hier, machte ihr Angst. Warum hielten die Leute einen Schatten, dem sie nicht ausweichen konnten, für etwas Gutes? Weshalb nahmen sie in Kauf, dass er sie Tag für Tag berührte? Die Sonne dagegen war Licht, war freundlich.
    Heute allerdings war von ihren warmen Strahlen nichts zu spüren. Die Sicht reichte nicht weiter als bis zur Reihe der Olivenbäume, hinter denen sich sumpfiges Marschland erstreckte. Alles andere versank in dem dichten Nebel, der sich morgens oft über die Ebene legte.
    Auch die Straße nach Norden, markiert durch vereinzelte Zypressen zu beiden Seiten, lag unsichtbar hinter dumpfem Grau. Umgekehrt war der Hof von dort aus nicht zu sehen, und keiner, der die Abzweigung nicht von einem früheren Besuch her kannte, wäre auf die Idee gekommen, bei solch einem Wetter den sicheren Weg zu verlassen. Das umliegende Marschland war tückisch, selbst für jene, die sich hier auskannten; täglich entstanden neue Sumpflöcher und Tümpel, und bei Nacht hörten Maria und ihre Geschwister oft den Wölfen zu, wenn sie jenseits der Olivenbäume den Mond anheulten.
    Maria zog einen Eimer Wasser aus dem Brunnen im Hof, als sie gedämpft das Klappern von Pferdehufen vernahm. Sie blickte auf, die Stirn unter den wilden schwarzen Locken sorgenvoll gekräuselt. Sie war das älteste Kind auf dem Hof. Luca und Michele, ihre Brüder, waren sechs und sieben. Zwei Schwestern waren kurz nach der Geburt gestorben, und beinahe wäre es Maria ebenso ergangen. Vor einem Jahr hatte sie ein tückisches Fieber überlebt, und alle hatten das für ein Wunder gehalten. Noch heute betete ihre Mutter jeden Tag einen Rosenkranz – nun, fast jeden Tag –, um dem Herrn für seine Gnade zu danken.
    Das Geräusch der Hufe näherte sich aus Richtung der Straße. Woher auch sonst. Niemand, der alle Sinne beisammenhatte, wagte bei solcher Witterung, die Sümpfe zu durchqueren.
    Maria starrte angestrengt in den Nebel. Die Olivenbäume sahen aus wie alte Weiber mit zu vielen knöchernen Armen und wirbelndem Haar, das eine Laune der Natur hatte erstarren lassen. Maria fürchtete sich vor diesen Bäumen, nicht nur bei Nebel. Selbst im Sonnenlicht erschienen sie ihr manchmal wie eine düstere Prozession von Hexen, bucklig und wispernd, die das Gehöft umkreisten und nur zufällig immer dann an derselben anlangten, wenn man gerade in ihre Richtung schaute.
    Sie knotete das Brunnenseil fest und hob den Eimer mit bei den Händen auf die Ummauerung. Sie war klein für ihr Alter sehr zart gebaut, und ihr Vater hatte einmal gesagt, die Krankheit stecke ihr wohl noch immer in den Knochen, weil sie gar nicht größer und kräftiger wurde. Ihre Mutter hatte es auf einen Streit? mit ihm ankommen lassen und war Maria zu Hilfe gekommen Sie selbst sei in diesem Alter klein und zierlich gewesen – und habe sie das etwa davon abgehalten, mit einem groben Klotz wie ihm in dieser Einöde zu siedeln und ihm ein Kind nach dem anderen zu gebären? Wäre Marias Vater tatsächlich so grob gewesen, wie sie vorgab, dann hätte er darauf wohl antworten können, dass zwei dieser fünf zu schwach zum Leben gewesen waren und sie auch Maria fast verloren hätten. Stattdessen aber nahm er erst seine Frau in die Arme, danach Maria, und zu den beiden Jungen sagte er, sie sollten sich hüten, jemals eine Frau zum Weib zu nehmen, die klüger sei als sie selbst; falls sie es aber dennoch täten, dann sollten sie sich gefälligst eine aussuchen, die so prächtig anzuschauen war wie ihre Mutter.
    Der Hufschlag im Nebel kam näher. Der Reiter schien es? nicht eilig zu haben. Das Ross trabte gemächlich über den fest gestampften Boden. Dann und wann platschte ein Huf in eine Pfütze.
    Maria überlegte, ob sie den Eimer nehmen und zurück zum Haupthaus laufen sollte. Ihr Blick streifte die verkrüppelten Olivenbäume, kaum mehr als knorrige Silhouetten in der milchigen Ödnis. Sie würde den Fremden erst zu sehen bekommen wenn er die Bäume

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