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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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passiert hatte. Er war also noch ein gutes Stück entfernt. Genug, um zum Haus zu laufen – allerdings nur, wenn sie den schweren Eimer zurückließ.
    Sie überlegte eine Spur zu lange, denn als sie sich gerade entschieden hatte, schälte sich bereits die düstere Form des Reiter aus dem Nebel, groß und ungeheuer massig. Maria hatte schon früher Schlachtrösser gesehen, gewaltige Tiere mit buschigem Fell an den Hufen, einem Rücken so hoch wie ein Haus und dem Schädel eines Drachen. Aber dieses hier übertraf sie alle. Der Mann im Sattel dieses Giganten stand dem Tier an Gewaltigkeit nicht nach, was daran liegen mochte, dass er schwer gerüstet war, so als ritte er in eine Schlacht.
    Maria ging hinter der Brunnenmauer in Deckung, umrundete sie halb und schaute verstohlen über den Steinrand. Ihre Eltern und Brüder waren auf der anderen Seite des Hofs im Stall. Ihr Vater wollte heute Schweine schlachten. Das Quieken und Schreien der Tiere gellte schon den ganzen Morgen durch den Nebel.
    Der Fremde lenkte das Ross nah am Brunnen vorbei auf den Hof. Sie konnte das Tier jetzt riechen, sogar das gefettete Eisen des Kettenhemdes, das der Mann am Leib trug. Sein Helm war am Sattel befestigt, der leere Augenschlitz blickte in Marias Richtung. Der Reiter hatte sich eine Kapuze aus schwarzem Samt tief ins Gesicht gezogen. Maria fürchtete sich vor den Augen, die darunter in der Dunkelheit lagen.
    Der Mann war anders als jene, die sonst den Hof passierten. Am liebsten waren ihr die Händler mit Geschichten und süßem Backwerk. Weniger gern mochte sie die Pilger, die oft schlecht gelaunt waren und seltsames Zeug redeten. Auch Ritter kamen manchmal vorbei; sie forderten meist, statt zu bitten.
    Doch dieser hier unterschied sich von ihnen allen. Er war gerüstet wie ein Edelmann, in dunkles, matt schimmerndes Eisen, aber er trug kein Wappen. An seinem Sattel hing ein Bündel Waffen, Klingen in allerlei Längen und Stärken, eine Armbrust, ein kurzer Bogen, ein Streitkolben mit gezackter Spitze und eine Axt mit schmaler, sichelförmiger Schneide. Er trug einen Mantel, der hinter ihm auf dem Sattel gerafft war; darunter stach eine weitere Schwertscheide hervor, samtig rot und mit silbernen Nieten behauen. Schwere Schulterschützer, die jeder andere zum Reiten abgenommen hätte, ließen ihn so breit wie einen Riesen erscheinen. Maria war noch nie einem so gefährlichen Mann begegnet, Verängstigt verkroch sie sich hinter dem Brunnen und schloss die Augen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie auf den Hufschlag, der auf der anderen Seite des gemauerten Schachts vorüberklapperte und sich jetzt dem Haupthaus näherte.
    Im Stall schrie ein Schwein herzzerreißend laut, ehe die Geräusche unvermittelt abbrachen. Ihr Vater hatte dem Tier mit einem Hammer den Schädel eingeschlagen.
    Nachdem die Schreie verhallt waren, lag Stille über dem Hof. Kein Hufschlag mehr. Maria lehnte mit bebenden Lippen an der Brunnenmauer und wagte nicht, sich umzudrehen und über den Rand zu blicken. Der Fremde musste das Pferd zum Stehen gebracht haben.
    Ihr Vater hatte sie oft vor Kriegern gewarnt. Es war noch nicht lange her, dass die Heerscharen des deutschen Kaisers diese Gegend passiert hatten. Norditalien gehörte zum Kaiserreich, deshalb war es hier nicht zu Plünderungen und Morden gekommen; das hatten sich die Soldaten für den Süden aufgehoben. Trotzdem war der Anblick des endlosen Heerwurms beängstigend gewesen. Damals hatte Marias Vater seine Kinder gewarnt, niemals einem Mann in Eisen zu vertrauen. Wer es nötig hatte, schwer bewaffnet durch die Lande zu ziehen, der konnte nichts Gutes im Schilde führen.
    Maria unterdrückte ein Schluchzen. Sie wollte zu ihren Eltern laufen und sie warnen, dass ein Fremder aus dem Nebel gekommen war. Ein Fremder mit allen nur erdenklichen Waffen. Aber sie war wie gelähmt, und es gab ohnehin keinen Weg zum Stall, auf dem der Mann sie nicht entdeckt hätte.
    Klirrend rieben die Kettenglieder aneinander, als der Fremde aus dem Sattel stieg. Er machte ein paar Schritte, aber Maria konnte vom Klang her nicht abschätzen, in welche Richtung er sich bewegte. Kam er zum Brunnen herüber? Möglich, dass er nur durstig war. Er musste sie nicht gesehen haben.
    Sie kniff die Augen noch fester zusammen, bis sie farbige Punkte in der Schwärze sah. Wie schillernde Gasblasen in einem Sumpfloch stiegen sie aus der Dunkelheit empor und zerplatzten.
    Wieder Schritte. Jetzt ein wenig schneller.
    Kein Zweifel, der Fremde

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