Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
entfernte sich vom Brunnen. Sicher ging er zum Haupthaus hinüber. Aber wenn er nur um Verpflegung bitten wollte, warum rief er dann nicht nach den Besitzern des Hofs? Warum nannte er nicht sein Begehr und seinen Namen?
    Weil ihm das, was er begehrt, niemand freiwillig geben würde, flüsterte es in Marias kindlichem Verstand. Weil er böse ist.
    Tränen traten ihr in die Augen und zogen Bahnen über ihre schmutzigen Wangen. Sie konnte nicht einfach hier sitzen bleiben. Aber sie konnte auch nicht zum Stall laufen.
    Seht euch das feige Mädchen an, wisperten die Hexenbäume an der Grenze des Nebels. So klein und hilflos.
    Maria biss sich die Unterlippe blutig, um nicht aufzuschluchzen.
    Unendlich vorsichtig zog sie die Knie an, schob sich mit dem Rücken an der Mauer hinauf und drehte den Kopf gerade weit genug, um einen Blick über den Brunnenrand zu erhaschen.
    Da war das Pferd, reglos in der Mitte des Platzes. Die Klingen am Sattel mussten selbst so viel wiegen wie ein Mann.
    Aber etwas fehlte.
    Die Axt mit der Sichelklinge.
    Ein verzweifelter Laut kam über Marias Lippen. Sie biss die Kiefer noch fester aufeinander, bis sie keine Luft mehr bekam, weil ihre Nase lief. Sie schnappte nach Atem, sah vor lauter Tränen und Nebel überhaupt nichts mehr, horchte, hörte aber nur ein Pochen, das aus ihr selbst kam. Ganz schnell und dröhnend.
    Sie richtete sich auf, hielt sich mit einer Hand an der Brunnenmauer fest und wischte sich mit der anderen über die Augen. Der Fremde war nirgends zu sehen. Die Tür des Haupthauses stand offen, aber das tat sie fast immer. Er mochte dort drinnen sein. Oder er war auf dem Weg um die Gebäude, schlich vielleicht gerade an den Viehverschlägen entlang und näherte sich dem Stall.
    Ein spitzes Schreien ertönte, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Dann abermals Stille.
    Ihr Vater hatte das nächste Schwein getötet.
    Aber der Schrei hatte anders geklungen. Nicht so röchelnd wie bei einem der Tiere.
    Vielleicht täuschte sie sich.
    Feiges kleines Mädchen, neckten sie die Hexenbäume und rasselten mit den Ästen. Schaust einfach zu und tust nichts.
    Zögernd schob sie sich um den Brunnen. Sollte sie die Tür des Hauses im Auge behalten? Oder eher die Schneise zwischen den Gebäuden?
    Tief in ihr war noch immer Ungewissheit. Vielleicht wollte ihnen der Fremde gar nichts Böses. Ihre Brüder würden sie auslachen, wenn sie erfuhren, wie sie sich angestellt hatte. Sie war die Älteste. Sie hätte auch die Mutigste sein müssen.
    Feiges kleines Mädchen.
    Das schwarze Schlachtross stand vollkommen reglos, als wäre mit dem Reiter jegliches Leben aus dem Tier gewichen. Maria benutzte es als Deckung in Richtung Haupthaus, während sie sich langsam vom Brunnen löste und den freien Platz überquerte.
    »Mama?«, flüsterte sie wie zu sich selbst. Selbst wenn sie hätte rufen wollen, hätte sie nicht die Kraft dazu aufgebracht.
    Das Pferd senkte den Schädel und schnaubte leise.
    Maria fuhr erschrocken zusammen, blieb wie angewurzelt stehen.
    Von der Tür des Hauses aus war sie aus diesem Winkel nicht zu sehen. Umgekehrt aber konnte auch Maria nicht am Pferd vorbei auf den Eingang blicken. Falls dort jemand ins Freie trat, würde sie ihn erst entdecken, wenn es zu spät war.
    Der leere Helm am Sattel starrte schon wieder in ihre Richtung, als hätte er sich aus eigener Kraft an seiner Befestigung zu ihr umgedreht.
    Sie machte noch zwei, drei weitere zaghafte Schritte an dem Pferd vorbei – und rannte los! Sie sah nichts mehr, hörte nichts mehr, spürte den Boden nicht unter ihren Füßen, schoss vorwärts wie ein Pfeil von der Bogensehne. Ihr Instinkt befahl ihr, ins Haus zu laufen. Aber womöglich war er dort drinnen. Und wenn nicht, würde er es vielleicht später durchsuchen, nachdem er –
    Nachdem was?
    Erneut das stumpfe Schlagen. Diesmal ohne einen Schrei.
    Irgendwo grunzten die restlichen Schweine.
    Maria schüttelte sich im Laufen unter einem Weinkrampf, als sie im letzten Moment von ihrem Weg zur Haustür abbog, nicht nach rechts zur Schneise und den Stallungen, sondern nach links, an der Vorderseite des Haupthauses vorbei zur nächsten Ecke.
    Von hier bis zu den Hexenbäumen waren es keine zwanzig Schritt.
    Hier läuft sie!, schienen die Bäume dem Fremden zuzuraunen. Und sie ist nur ein Kind.
    Der Nebel war dichter geworden. Maria presste sich mit dem Rücken an die Seitenwand des Hauses, geschützt von der Ecke, die sie jetzt vor Blicken vom Hof her bewahrte.
    Ein

Weitere Kostenlose Bücher