Herrin der Lüge
hunderte solcher Orte im ganzen Land. Meine Kundschafter haben zahllose auf unserem Weg nach Süden ausfindig gemacht, und wir werden einer ganzen Reihe davon Besuche abstatten. Dort kannst du erproben, wie gut du deine Fähigkeiten beherrschst.«
»Warum an so abgelegenen Orten?«
»Der Glaube sitzt dort tiefer als in den großen Städten. Außerdem will ich nicht riskieren, dass sich irgendein Vogt oder Reichsverwalter aufspielt und uns in die Quere kommt. Einer Menge Leute wird es nicht gefallen, wenn die jungen Frauen in Scharen ihre Familien verlassen und sich einer Predigerin anschließen.« Sie hob eine Augenbraue. »Was hätte dein Vater gesagt?«
»Mein Vater schert sich keinen Deut darum, was aus mir wird.« Oder aus Faun, ergänzte sie in Gedanken. »Schon vergessen?«
»Du tust ihm unrecht. Er war bei mir. Er hat versucht, euch beide freizubekommen.«
»Weil er Angst um seine Einkünfte hat.«
»Er hat geweint, Saga. Und, glaub mir, ich weiß, wann ein Mann mir etwas vormacht. Dein Vater ist ehrlich gewesen. Er hat gelitten.«
Einen Moment lang war Saga verunsichert. »Warum erzählt Ihr mir das?«
»Damit du lernst, die Welt nicht in Gut und Böse einzuteilen. Oder in Freunde und Feinde. Es gibt noch eine ganze Menge dazwischen.«
»Freunde wie Euch, zum Beispiel?«
»Ich bin nicht naiv, Saga. Du wirst nie eine Freundin in mir sehen. Aber du könntest allmählich damit anfangen, mich nicht einfach nur für ein Scheusal zu halten. Es gibt Gründe für das, was ich tue.«
Saga verzog spöttisch das Gesicht. »Eure Liebe zu Gahmuret!«
»Vielleicht bist du einfach zu jung.«
O ja, dachte sie bissig, das Argument kenne ich. Und es ist nichts als ein Haufen Scheiße.
Sie drehte sich um und ging den Hügel hinunter zurück zum Lager. Es fühlte sich gut an, Violante stehen zu lassen.
»Ich werde für Euch predigen, Gräfin«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Ich werde alles tun, was Ihr verlangt. Aber versucht nicht, mir die Welt zu erklären. Ihr lebt vielleicht für Euren Traum, aber Ihr wisst nichts von der Wirklichkeit.«
Violante gab keine Antwort.
»Warum dieser Name?«, fragte sie später am Lagerfeuer die Nonne. »Warum Magdalena?«
»Kannst du dir das nicht denken?« Gunthild saß seltsam steif neben ihr im Gras und starrte in die Flammen. Sie trug wie immer ein schwarzes Kleid und ihre Haube. Im Hintergrund loderten weitere Feuerstellen, um die sich die Söldner scharten. Der Geruch nach Leder, Schweiß und Pferden wehte herüber und brachte Bilder von Vertrautem mit sich; er erinnerte Saga an die Jahre auf der Straße, in den engen Wagen der Familie, auf rauchgeschwängerten Burghöfen und lärmerfüllten Marktplätzen. Das alles schien so lange zurückzuliegen, dass die Einzelheiten bereits verblassten.
»Ihr wollt mich den Leuten als Heilige verkaufen«, sagte sie. »Maria Magdalena war aber alles andere als eine Heilige.«
»Sie war eine Hure«, bestätigte Gunthild. »Aber fällt dir irgendeine andere Frau ein, die unser Herr Jesus Christus an seiner Seite geduldet hat? Irgendeine?«
»Warum nicht die Jungfrau Maria?«
Gunthild schlug ein Kreuzzeichen. »Versündige dich nicht! Die Jungfrau Maria ist … sie ist größer und herrlicher, als du oder ich je erfassen könnten.«
Saga zuckte die Achseln. »Also erhalte ich meine göttlichen Eingebungen von Maria Magdalena.« Sie lachte ungläubig auf. »Das ist –«
»Was?«
»Völliger Bockmist! War das deine Idee?«
Gunthild blickte mit ihren tief liegenden Augen in die Flammen. Sie sah aus, als wollte sie die Hand danach ausstrecken. »Nichts von alldem ist meine Idee gewesen. Am wenigsten das, was mit dir zu tun hat.«
»Ich weiß, dass du mich nicht magst. Du musst mir das nicht jeden Tag von neuem zeigen.«
Gunthild fuhr auf und packte sie am Handgelenk. Die Bewegung war so schnell, dass Saga erschrocken zusammenzuckte. »Was immer die Gräfin mit alldem bezwecken mag, Saga – das Ergebnis zählt. Wir werden das Heilige Grab sehen. Wir werden die Ungläubigen von dort verjagen. Der Herr wird uns lieben.«
»Ja.« Saga schnaubte verächtlich. »Eine Lügnerin wie mich und eine Nonne, die sich hat kaufen lassen.«
Gunthild starrte sie an, sackte plötzlich in sich zusammen und ließ Sagas Hand los.
»Wir tun das Richtige«, flüsterte sie ins Feuer. »Wir tun bestimmt das Richtige.«
Saga wanderte durchs Lager. Im Schein der Lagerfeuer spürte sie die Blicke der anderen auf sich und versuchte so zu tun, als
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